Auf den Spuren der Sudeten: Hinterdittersbach

von Marcel Krönert

Hinterdittersbach (tsch. Zadni Jetrichovice) war bis 1945 ein Knotenpunkt des Tourismus in der Sächsisch-Böhmischen Schweiz. Die Siedlung liegt am böhmischen Ufer der Kirnitzsch, die – bis dahin Grenzbach – 500 Meter bachaufwärts nach Sachsen reinfließt. Die dem Ort zugehörige Brücke lässt sich auf Karten bis in das Jahr 1592 zurückverfolgen, auch weil sie zu der damals militärisch und wirtschaftlich wichtigen Böhmerstraße gehörte. Auf einer Karte der Herrschaft Kamnitz aus dem Jahr 1794 wird sie zusammen mit der sogenannten Kirnitzschschänke abgebildet, welche später zum zentralen Anlaufpunkt für Wanderer werden sollte.

Brücke über die Kirnitzsch. (Bild: Marcel Krönert, 2018)

Zum Ort zählten weiterhin das Kinskysche Hegerhaus, das Gasthaus „Waldfrieden“ sowie das Clary’sche Jagdhaus (ab 1903). Da die Kirnitzschschänke den meisten bekannt war und auch in jeder Karte Erwähnung fand, wurde umgangssprachlich die gesamte Siedlung nach ihr benannt. Seinen Ursprung hatte Hinterdittersbach wohl als saisonaler Aufenthaltsort für Forstpersonal und Waldarbeiter. In einer Aufzeichnung des Topografen Sommer aus dem Jahr 1833 werden vier Häuser und 24 Einwohner genannt.  Es ist davon auszugehen, dass in den Sommermonaten täglich ein Vielfaches dieser Einwohnerzahl der Siedlung einen Besuch abstatteten.

Hinterdittersbach – damals und heute. (Bild: Michael Meißner, 2018)

Der Fremdenverkehr in der Region entwickelte sich allerdings erst im ausgehenden 19. Jahrhundert.  Dieser Entwicklung war der Bau einer Eisenbahnlinie durch das Elbtal im Jahr 1851 vorausgegangen. 1888 wurde die Böhmerstraße zur Bezirksstraße. Sogar eine Straßenbahn von Bad Schandau bis zur Kirnitzschschänke sollte gebaut werden, diese Linie reichte später jedoch nur bis zu den Lichtenhainer Wasserfällen.

Das für Wanderer Besondere an Hinterdittersbach war, dass hier die Touristenwege von Dittersbach (Jetrichovice), Hohenleipa (Vysoka Lipa), Rainwiese (Mezni Louka), der Unteren Schleuse und dem Zeughause, von Hinterhermsdorf und aus dem Khaatale (Kyjovske udoli) zusammen trafen. In der Kirnitzschschänke war 1896 auch eine Auskunftsstelle des Gebirgsvereines zu finden, 1912 dann im Gasthaus „Zum Hirsch“. Außerdem gab es ein Kindererholungsheim.  Da die Böhmerstraße schon seit Jahrhunderten die Grenze zwischen den Herrschaften Kamnitz und Binsdorf bildete und mitten durchs Dorf verlief, gehörten auch die Häuser auf den beiden Seiten jeweils unterschiedlichen Gemeinden an.

Hinterdittersbach – damals und heute. (Bild: Michael Meißner, 2018)

Bei der Ankunft der novOstia Mitglieder in Hinterdittersbach waren von diesen Häusern bis auf wenige Grundmauern nichts mehr zu sehen.  Einzig durch die noch rudimentär vorhandenen Wege, die teils eingestürzte Kellergewölbe und die in Reihe gepflanzten aber inzwischen verwilderten Bäume ließ sich die Siedlungsstruktur erahnen. Nach 1945 wurden die Einwohner aus dem Ort vertrieben und die Häuser teilweise zerstört. Noch bis 1956 wurde das Kindererholungsheim genutzt, die ganze Region jedoch vermutlich mit dem Aufstand in Ungarn von 1956 massiv abgeriegelt. Damit verfielen auch die restlichen Gebäude. Heute ist nur noch die Kirnitzschbrücke vorhanden. Sie ist seit dem 28.10.2003 offizieller Grenzübergang und erfreut sich dank des wieder einsetzenden Tourismus steigender Beliebtheit.

Grundmauern in Hinterdittersbach. (Bild: Michael Meißner, 2018)

Auf den Spuren der Sudeten: Die Grundmühle

Grundmühle (Dolský Mlýn) im Tal der Kamnitz (Kamenice); (Bild: Michael Meißner, 2018)

 

Von Kristin Eichhorn

Die Grundmühle erreicht man auf gut ausgebauten Wanderwegen von Dittersbach und Hohenleipa.

Die Grundmühle – damals und heute. (Bild: Michael Meißner, 2018)

Bereits im 16. Jahrhundert wurde die Grundmühle urkundlich erwähnt und von da an kontinuierlich ausgebaut. Zu den Mühlengebäuden kamen eine Gärtnerei, eine Bäckerei und eine Branntweinbrennerei in Nebengebäuden. Mit zunehmender Bedeutung der Region als Ausflugsziel für Wanderungen und Kahnfahrten im 19. Jahrhundert gewann der Betrieb der Gastwirtschaft an Bedeutung. Zu dieser Zeit lebten 24 Menschen in der Siedlung.

Die Grundmühle – damals und heute. (Bild: Michael Meißner, 2018)

Nach dem zweiten Weltkrieg kam es zur Vertreibung der Sudetendeutschen Bewohner. Besonderheit der Grundmühle ist, dass diese von 1696 bis zur Vertreibung durchgehen im Besitz eine Familie war.  Nach der Vertreibung wurden auch die touristischen Kahnfahrten eingestellt und die Mühle verblieb unbesiedelt.

 

Im Türsturz ist das Jahr 1727 verweigt (Bild: Michael Meißner, 2018)

In Tschechien erlangte die Grundmühle bescheidene Bekanntheit, da sie Schauplatz zweier Märchenfilme war.  Im Film „Die stolze Prinzessin“ (1952) kann man sich noch einen Eindruck über die gut erhaltenen Innenräume der Mühle verschaffen.  Danach wurde der Dachstuhl der Mühle durch einen Brand zerstört und beschleunigte so den Verfall. Der Film „Der verlorene Prinz“ (2008) zeigt bereits die Ruine ohne Dach.

Die Grundmühle. (Bild: Michael Meißner, 2018)

Wir fanden vor Ort eine sehr gut erhaltene Wüstung vor. Dies liegt vor allem an einer Bürgerinitiative, die sich seit 2008 für den Erhalt einsetzt und regelmäßig Arbeitseinsätze organisiert und Restaurationen vornimmt.

Zurückgebliebene Mühlsteine zeugen von der Geschichte der Gebäude. (Bild: Michael Meißner, 2018)

AK Osteuropa in Minsk: Gedenkstätten Malyj Trostenez und Blagowschtschina – Holocaust- Erinnerungskultur in Belarus

von Elena Mühlichen

Nachdem Antanina Chumakova, die in der Geschichtswerkstatt Leonid Lewin in Minsk Referentin ist, uns fachkundig und detailreich durch die Wanderausstellung „Vernichtungsort Malyj Trostenez. Geschichte und Erinnerung“ im IBB in Minsk führte, fahren  wir aus dem Zentrum der stark sowjetisch geprägten Stadt und halten bald darauf an einem Fleckchen Grün. Ein mit Pappeln gesäumter Weg führt unscheinbar zu einem Ort, der vor einigen Jahrzehnten noch ein Zwangsarbeitslager war, man nennt ihn Malyj Trostenez. Doch auch damals soll es unscheinbar gewesen sein – einige Baracken wurden errichtet, Zäune soll es nicht gegeben haben, die europäischen Jüd*innen, die hierhin deportiert wurden, hätten durch die Sprachbarriere sowieso keine Chance gehabt, einen Fluchtversuch zu überleben, erzählt uns der belarussische Historiker Alexander Dalgowskij. Er führt uns an den Mahnmalen des Holocausts vorbei, die erst 2015 errichtet wurden, als öffentlich wurde, dass die vorherige Gedenkstätte am „falschen“ Ort stand. Alexander hat sich ausführlich mit dem Thema befasst und zeigt uns die historischen Fehler, die trotzdem auf den Tafeln zu finden sind: ungenaue Daten, zu hohe Opferzahlen, die Nichterwähnung von Ghettos. Es hätte schnell gehen müssen, meint Alexander, die historische Genauigkeit sei dabei auf der Strecke geblieben. Was auch erstaunt: Jüd*innen werden nicht unter den Opferkategorien genannt. Für Alexander ist ein Grund dafür, dass die Außerordentliche Kommission der Roten Armee keine jüdischen Opfer vorgefunden hatte – der Großteil der Lagerinsassen wurde 1944 erschossen und ihre Leichen verbrannt. Die wenigen Beweisfotos zeigen hauptsächlich belarussische Leichen.

Alexander erzählt unentwegt von den Verbrechen der Nationalsozialisten und von den Versuchen, diese historisch aufzubereiten, während er uns zu einem weiteren Ort der Vernichtung fährt: Blagowschtschina. Wir laufen über hölzerne Platten und Sand vorbei an halbfertigen Mauern – die Gedenkstätte hier ist gerade noch im Bau. Sie wird nach dem Entwurf des Architekten Leonid Levin gestaltet und soll am 29. Juni dieses Jahres mit Beteiligung des deutschen, österreichischen und belarusssischen Präsidenten eingeweiht werden.

Wir erreichen eine Waldlichtung. Wüssten wir nicht um die Tausende Jüd*innen, die hier zusammengetrieben und erschossen wurden, und hätten wir nicht die Baustelle hinter uns, würde auch sie nur einem, unscheinbaren, wenngleich seltsamen mit Gras überwachsenen Rechteck anmuten. Doch an einer Seite finden wir etwas Besonderes: gelbe, laminierte A4-Blätter, die an den Bäumen in der Nähe der Lichtung angebracht worden sind und die das tun, was die offiziellen Stellen hier bisher versäumt hatten: sie zeigen die Namen der Opfer. Verwandte der Ermordeten aus Wien haben diese Initiative namens „Malvine – Maly Trostinec erinnern“ gegründet. Ihr folgten weitere Spendenaufrufe und Initiativen aus Deutschland und Belarus, die sich auch heute noch für eine offenere Erinnerungskultur einsetzen. Dass in Blagowschtschina nun, im Jahre 2018, eine große Gedenkstätte gebaut wird und der dortige Militärübungsplatz verlegt wurde, ist ein wichtiger Schritt.

Mehr Informationen zur Gedenkstätte Malyj Trostenez zum Beispiel auf der Internetseite des IBB Belarus, Weiteres zur Initiative Malvine und dem österreichischen Verein IM-MER erfahrt ihr hier.

 

AK Osteuropa in Minsk: Treffen mit Taccjana Karatkevič, Präsidentschaftskandidatin bei den Wahlen 2015, Mitglied der zivilgesellschaftlichen Organisation Havary Praŭdu! (Sag die Wahrheit!)

von Marcel Schmeer

Für das Treffen mit Taccjana Karatkevič, Kandidatin bei der Präsidentschaftswahl im Jahr 2015, fanden wir uns nach einem ereignisreichen ersten Tag am Samstagmorgen in einem mondänen Kaffeehaus unweit der für Minsker Verhältnisse pittoresken Lenin-Allee ein. Nach einer kurzen Vorstellungsrunde gab uns Taccjana, unterstützt von drei weiteren Aktivisten aus der zivilgesellschaftlichen Bewegung Havary Praŭdu! (auf Deutsch etwa: Sag die Wahrheit!), einen Einblick in Geschichte, politische Ziele und Alltag ihrer Organisation.

Sag die Wahrheit! wurde im Frühjahr 2010 von dem belarussischen Dichter Uladzimir Njakljajeŭ gegründet und hat sich seither in vielfältiger Weise in die Politik des Landes eingemischt. So war eines der Gründungsziele der Bewegung, offensichtliche Missstände (wie Arbeitslosigkeit, unfreie Wahlen etc.) auch im öffentlichen Diskurs sichtbar zu machen und die Regierung von Aljaksandr Lukašėnka damit zu konfrontieren. Zu diesem Zweck wurde die Bevölkerung aufgerufen, mit dem Logo der Bewegung versehene Postkarten an offizielle Regierungsstellen zu versenden und hierdurch massenhaft auf Mängel, Probleme und Unzufriedenheiten aufmerksam zu machen. Einen weiteren Versuch, die Grenzen des öffentlich Sagbaren in Belarus zu verschieben, stellte darüber hinaus die Publikation eines Buches mit dem Titel „100 Gesichter der Arbeitslosigkeit“ im Juni 2010 dar, in dem etliche Einzelschicksale versammelt wurden.

Bei der Wahl im Herbst des Jahres 2010 trat Njakljajeŭ als Präsidentschaftskandidat für Sag die Wahrheit! an und konnte laut offiziellen Angaben 1,78% der Wählerstimmen erringen – Njakljajeŭ und seine Unterstützer haben diese Ergebnisse allerdings als manipuliert bezeichnet. Der Poet wurde kurz nach den Wahlen verhaftet und im Januar 2011 unter Hausarrest gestellt. Die Organisation sah sich seitdem massiver polizeilicher bzw. geheimdienstlicher Verfolgung ausgesetzt und wurde erst im vergangenen Jahr offiziell staatlich registriert. Erst hierdurch wurde es möglich, einen wichtigen Schritt aus der Grauzone der Illegalität zu machen, die ihre Arbeit seit 2011 nachhaltig geprägt hatte. Trotz der Repressionen war unsere Gesprächspartnerin Taccjana, die auch Mitglied der Belarussischen Sozialdemokratischen Partei (Hramada) ist, bei den Wahlen am 11. Oktober 2015 für Sag die Wahrheit! gegen Präsident Lukašėnka angetreten und hatte dabei laut offiziellem Endergebnis 4,43% der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigt; in Meinungsumfragen hatte sie allerdings noch kurz vor der Wahl einen Zuspruch von ca. 17,9 Prozent erreicht.

Eine anregende Diskussion entspann sich im Folgenden über soziale Probleme in Belarus, die politische Agenda der Aktivist*innen sowie die Möglichkeiten politischer wie medialer Einflussnahme in einem autoritär geführten Staat. Grundsätzlich, so betonte Taccjana, sei der revolutionäre Weg, wie er etwa in der Ukraine oder einigen Balkanstaaten beschritten wurde, für Weißrussland nicht zielführend. Stattdessen sollte zweckorientiert die Kooperation und der Dialog mit politischen Akteuren und Entscheidungsträgern gesucht werden. Diese Ausrichtung genieße auch einen breiten Rückhalt in der Bevölkerung – Umfragen zufolge würden sich 70% der Weißrussen umsichtige politische Veränderungen wünschen; auch der steigende Wähler*innenzuspruch für Sag die Wahrheit! bestärke sie in dieser Auffassung.

Konkrete Ziele der Bewegung seien etwa die Initiierung vorsichtig-liberaler Wirtschaftsreformen, die in Weißrussland nach dem Niedergang der Sowjetunion im Gegensatz zu anderen Transformationsstaaten weitgehend ausgeblieben waren. Dabei solle trotzdem das Primat sozialer Sicherheit gelten, der Schutz von Arbeitsplätzen stehe an erster Stelle. Gleichermaßen solle die Arbeitslosenversicherung reformiert werden, die Langzeitarbeitslose bislang mit einer Strafsteuer zusätzlich belaste. Während das Lukašėnka -Regime politisch größtenteils Rentner*innen und Veteran*innen anspreche, wolle Sag die Wahrheit! explizit eine jüngere Zielgruppe (vor allem die ca. 30 bis 45-Jährigen) für ihre politischen Reformprozesse begeistern, dabei aber keineswegs die ältere Generation aus den Augen verlieren. Insgesamt monierte Taccjana, dass der Regierungsstil Lukaschenkas sich hauptsächlich durch nicht eingehaltenen Versprechungen auszeichne. Angesprochen auf die ökologische Agenda der Bewegung, verneinte Taccjanazwar eine allgemeine umweltpolitische Ausrichtung, verwies allerdings auf einzelne regionale Initiativen, die sich etwa für eine bessere Qualität von (zum Teil nitratverseuchtem) Trinkwasser einsetzen würden. Auch was die Gleichstellung der Geschlechter angeht, sah Taccjananoch einigen Reformbedarf in der belarussischen Gesellschaft und Politik, äußerte aber die große Hoffnung, dass ihre Medienpräsenz und ihr zivilgesellschaftliches Engagement hier einen längerfristigen Veränderungsprozess anstoßen könnten.

Wie können nun derartigen Politikentwürfe im Rahmen eines autoritären Willkürstaats umgesetzt werden und mit welchen Problemen sehen sich die zivilgesellschaftlichen Aktivist*innen vor diesem Hintergrund konfrontiert? Taccjana berichtete zunächst, dass die offizielle Registrierung von Sag die Wahrheit! im Jahr 2017 einen Meilenstein in der Auseinandersetzung mit dem Regime dargestellt habe, sie sich aber durchaus bewusst sei, dass dies auch der langjährigen internationalen Unterstützung der Organisation zu verdanken sei. Andere oppositionelle Gruppierungen würden nach wie vor in der Illegalität agieren und seien entsprechend stärker staatlichen Repressionen ausgesetzt. So seien auch die Möglichkeiten zur politischen Einflussnahme stark eingeschränkt: der sozialistische Klassiker des „Eingabewesens“ bleibe etwa häufig ohne jegliche Folgen und Ängste vor Eigentums- und Jobverlust hätten in der belarussischen Bevölkerung sukzessive ein lähmendes Klima der Furcht etabliert. Kein Wunder also, so Taccjana, dass die Bereitschaft zur demokratisch-politischen Partizipation eher gering ausgeprägt sei. So werde insbesondere außerhalb der Hauptstadt Minsk wenig subtil großer Druck auf Gegenkandidat*innen bei regionalen Wahlen ausgeübt. Dennoch würden einige Menschen das Risiko auf sich nehmen und z. B. versuchen, kleinere Anliegen (etwa die Renovierung von Kindergärten) anzusprechen und politisch durchzusetzen.

Als letzten Aspekt der prekären Rahmenbedingungen für zivilgesellschaftliches Handeln in Belarus sprach Taccjana das belarussische Mediensystem und die stark gelenkte öffentliche Meinung an, die von Zensur geprägt sei und etwa auch „Verwarnungen“ kritischer Journalist*innen bis hin zu Schließungen ganzer Medieninstitute umfasse. Unter diesen Voraussetzungen sei etwa der Wahlkampf für Sag die Wahrheit! sehr stark abhängig von der – teilweise ebenfalls regulierten – Präsenz in den Sozialen Medien. Der Content solle dabei breit gestreut werden und explizit auch der Kontakt mit staatlichen Medien gesucht werden, um möglichst viele potentielle Wähler*innen zu erreichen. Taccjana selbst betreibt einen recht erfolgreichen Instagram-Account, auf dem sie auch einen ausführlichen Bericht zu unserem Gespräch eingestellt hat.

Zum Abschluss plädierte Taccjana noch einmal inständig dafür, dass Weißrussland weiterhin als Teil der europäischen Staatengemeinschaft wahrgenommen werden sollte. Im Idealfall solle in Zukunft die starke Fixierung auf Russland gelockert und eine zunehmende Öffnung nach Westen angestrebt werden: „Wir brauchen mehr Europa in Belarus!“ – Es bleibt zu hoffen, dass dies nicht nur ein frommer Wunsch bleibt und Organisationen wie Sag die Wahrheit! in Zukunft demokratische Reformprozesse in Belarus mit auf den Weg bringen können.

(Ihr könnt Taccjana hier auf Instagram folgen!)

Foto: Laurenz Hamel 2018

AK Osteuropa in Minsk: Treffen mit Olga, Dozentin am European College for Liberal Arts (ECLAB)

von Alina Käfer

Seinen Sitz hat das European College of Liberal Arts in Belarus (ECLAB) direkt an der Kastryčnickaja-Straße, einem ehemaligen Fabrik-Areal, die nun mit instagramtauglicher Street-Art und hippen Bars und Cafés gesäumt ist. In direkter Nachbarschaft: der Campus der Belarussischen Staatsuniversität. Doch zwischen den beiden Bildungseinrichtungen liegen Welten. Das ECLAB steht unter dem Motto „Providing democratic education“. Die in diesem Motto anklingende Kritik an der aktuellen belarussischen Staatsform und deren Bildungspolitik wird viel konkreter durch Statements von Alexander Adamiants, dem Direktor von ECLAB. So bemängelt er in dem Vorwort der ECLAB-Broschüre, dass „the government tightly controls state and private universities […] [and] the internal leadership structures [are] deeply reminiscent of Soviet-style authoritarianism“. Das ECLAB wurde deswegen 2014 aus dem Bestreben heraus gegründet, eine alternative Lernumgebung zu bieten und den Studierenden kritisches und eigenständigen Denken, Diskussionsfähigkeit, Empathie und Respekt für eine demokratische und produktive Gesellschaft zu vermitteln.

Eine der Dozentinnen ist Olga Shparaga. Die promovierte Philosophin lehrte wie viele DozentInnen von ECLAB an der Belarussischen Staatsuniversität, bis sie dort wegen Protestaktionen entlassen wurde. Wir treffen sie an einer Straßenkreuzung der Kastryčnickaja-Straße, wo sie uns zunächst etwas über die Straße, die dort beheimatete Kulturszene und von Projekten und Galerien junger kritischer Künstler erzählt, mit denen ECLAB manchmal zusammenarbeitet. Später nimmt sie uns mit in die Räumlichkeiten von ECLAB. Insgesamt drei Räume teilen sich die DozentInnen für ihre Kurse. Diese finden jeweils abends statt, da die meisten Studierenden von ECLAB tagsüber einem Beruf nachgehen oder an einer anderen, meist staatlichen Universität studieren.

Die Gründungsmitglieder, darunter auch Olga, waren davor bereits beim European Café aktiv, einer Vorlesungs- und Diskussionsveranstaltung über Themen wie Internationale Beziehungen, Massenmedien, Erinnerungskultur, kritische Kunst, Gender und viele andere in der belarussischen Öffentlichkeit weniger beachteten Themen mit ausländischen Experten zu diskutieren. Als immer mehr interessierte Bürger kamen (bis zu 250 Personen pro Veranstaltung), war klar, dass das Projekt in anderer Form aufgezogen werden muss. Die Themen des European Café spiegeln sich in der „Studiengängen“, genannten Concentrations, von ECLAB wieder: Public History, Contemporary Society Ethics and Politics, Gender Studies, Contemporary Art and Drama Studies, sowie Mass Culture and Mass Media. 2018 kam zudem das Arts, Sciences and Technologies-Programm hinzu, dass sich mit den Auswirkungen der Digitalisierung beschäftigt. Umgerechnet ca. 360€ kostet ein Jahr Studium am ECLAB, was ca. 10% einem durchschnittlichen belarussischen Jahreseinkommen entspricht. Das können sich nicht alle leisten. Viele kämen aus einem alternativ-kritisch geprägten Milieu, so was präge auch das Bedürfnis nach Wissen, findet Olga. Die Studierenden erhalten keinen offiziellen Abschluss, vergleichbar zu einem Bachelor oder Master, aber bekommen Credits, die sie zum Beispiel an der Partneruniversität in Vilnus anrechnen lassen können.

Ca. 300 Studierende haben schon am ECLAB studiert, fast alle davon sind zwischen 20-30 Jahre alt und haben bereits einen Abschluss einer belarissischen Universität. Sie haben einfach gemerkt, so Olga, dass Ihnen beim staatlichen Studium etwas gefehlt hat, und wollen das fehlende Wissen über Gesellschaft, Kunst und Kultur am ECLAB nachholen. Vier Fünftel der Studierenden sind weiblich. Warum? Olga Shparaga glaubt, dass das eine Art Auflehnung gegenüber dem Rollenbild der sowjetischen Zeit ist, in der Frauen am Herd standen und auf die Kinder aufpassen mussten. Zudem seien Geisteswissenschaften eher von niedrigerer Priorität gewesen, durch das Programm von ECLAB ist sozusagen eine doppelte Auflehnung möglich. Wir wollen von Olga Shparaga auch wissen, ob das ECLAB aufgrund seiner alternativen Bildung oder der Kritik von Alexander Adamiants Probleme mit dem Staat hat – wie manche der umliegenden Galerien, von denen sie uns zu Beginn des Treffens erzählt hat. Nein, sagt Olga fast ein wenig stolz, da gebe es keine Probleme. Manche der DozentInnen seien sogar gleichzeitig an einer staatlichen Universität beschäftigt. Zudem bietet das ECLAB kein Politologie-Studium an, was Olga ebenfalls als einen der Gründe vermutet, weswegen das ECLAB bisher unbehelligt seiner Tätigkeit nachgehen konnte. Außerdem herrsche derzeit in der belarussischen Politik eine Phase der Liberalisierung, die nach den Präsidentschaftswahlen 2010 begonnen hat.

In den Vorlesungsräumen bei Eclab, ganz rechts: Olga
Ein ehemaliges Fabrikgebäude gegenüber des Colleges in der Kastryčnickaja-Straße
Interessierte AK-Osteuropa-Mitglieder In den Vorlesungsräumen ECLABs

Bilder: Marcel Schmeer & Alina Käfer, 2018