Der Kniefall Willy Brandts als deutsch-polnisches Medienereignis

(Vasco Kretschmann)

Am 18. Dezember 2013 wäre Willy Brandt 100 Jahre alt geworden. Ein zentraler Punkt der gesellschaftlichen Erinnerung an den ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler bleibt der Kniefall am Warschauer Mahnmal für die Opfer des Ghettoaufstandes von 1943 am 7. Dezember 1970. Die Geste ging als eine Bildikone in der Geschichte des 20. Jahrhunderts ein. Jedoch erst mit zeitlichem Abstand wurde Brandts visuelle Geste als ein unumstrittenes und historisch bedeutsames Symbol der Bitte um Vergebung für die deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg wahrgenommen. Somit griff das Ereignis den gesellschaftlichen Debatten über den angemessenen Umgang mit der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik voraus. 1970 löste der Kniefall von Warschau in der Bundesrepublik eine breite gesellschaftliche Debatte über den Umgang mit der deutschen Vergangenheit und den außenpolitischen Kurs gegenüber der Volksrepublik Polen aus.

Gleichzeitig wurde die symbolträchtige Geste zu einem grenzüberschreitenden Medienereignis. Während in der Bundesrepublik Deutschland die Massenmedien das Ereignis mit einer Fülle von Erzählmustern inszenierten, wurde das Ereignis in den staatlichen Medien der Volksrepublik Polen heruntergespielt. Jedoch für die polnische Gesellschaft waren die Geste des deutschen Bundeskanzlers und die folgende Unterzeichnung des Warschauer Vertrages nicht weniger ergreifend. Für das kommunistische Regime allerdings war der Kniefall eines deutschen Kanzlers ausgerechnet am Denkmal für die Opfer des Warschauer Ghettos kein willkommener Akt. Eine Provokation bedeutete das Symbol sowohl im Kontext des polnisch-jüdischen Opferdiskurses wie auch vor dem Hintergrund der offiziellen Tabuisierung des Warschauer Aufstands von 1944 als ein polnischer Selbstbefreiungsversuch vor einer sowjetischen Besetzung Warschaus. In der Presse der Volksrepublik Polen standen auch daher die Fotos der realpolitisch bedeutsamen Vertragsunterzeichnung im Vordergrund.

Vor diesem Hintergrund bildete im Jahr 2000, 30 Jahre nach dem Kniefall und zehn Jahre nach der Transformation Polens in einen demokratischen Staat, die Entscheidung zur Errichtung eines Willy-Brandt-Denkmals in Warschau für die Durchsetzung der symbolträchtigen Geste Brandts in der gesellschaftlichen Erinnerung Polens einen Wendepunkt.

Der Kniefall markierte den Auftakt zu einem selbstkritischen erinnerungspolitischen Wandel in der Bundesrepublik und der Bereitschaft zum Verzicht auf territoriale Ansprüche gegenüber Polen.

Die hier veröffentlichte Seminararbeit von 2010 aus dem Masterstudiengang Public History an der Freien Universität Berlin befasst sich mit dem Kniefall Willy Brandts als ein deutschen-polnischen Medienereignis. Es wird sowohl die unmittelbare mediale Kommunikation des Ereignisses hinsichtlich der Durchschlagskraft symbolpolitischer Gesten wie auch die langfristige Erinnerung an den Kniefall im Wandel der deutsch-polnischen Beziehungen untersucht.

Als Ergänzung zu den Debatten über den Kniefall im deutsch-polnischen Kontext sei ein Disput von 2011 angemerkt. Im deutsch-polnischen Magazin „Dialog“ verteidigte der polnische Publizist Adam Krzemiński die Bedeutung Willy Brandts Ostpolitik gegen eine politisch motivierte Relativierung durch die deutschen Professoren Gerd Langguth, Heinrich Oberreuter und Michael Wolffsohn. Die leicht polemischen Debatten in den Ausgaben Nr. 94 und 95 (2011) kreisen um die Bewertung der „Verdienste“ der einzelnen deutschen Bundeskanzler in der bundesrepublikanischen Polenpolitik.

Eine tiefgründige Auseinandersetzung mit Brandts Geste und die langfristigen Folgen seiner Politik für die deutsch-polnische Zusammenarbeit widmet sich der Sammelband des Centrum Stosunków Międzynarodowych und der Friedrich-Ebert-Stiftung: Europa – Kontinent der Versöhnung? 40 Jahre nach dem Besuch Willy Brandts in Warschau. Warszawa 2012.

Brandts Kniefall als Medienereignis_Vasco Kretschmann.pdf by FES_OstIA

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