Erfahrungsbericht über eine Studienexkursion nach Bosnien-Herzegowina (Teil 2)

(Kristine Avram, Universität Marburg)

Im ersten Teil hatte ich einige Eckdaten des Staatszerfalls Jugoslawiens und des sich daraus ergebenden Bürgerkrieges dargestellt. Im nachfolgenden Essay habe ich mich wie angedeutet mit politisierten Erinnerungen und kollektiven Gedächtnissen auseinandergesetzt, wobei ich auf meine Gesprächsaufzeichnungen aus Bosnien-Herzegowina zurückgegriffen habe − die Namen der Gesprächspartner habe ich allerdings mit Kürzeln versehen.

 

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Erfahrungsbericht über eine Studienexkursion nach Bosnien-Herzegowina (Teil 1)

(Kristine Avram, Universität Marburg)

Im Rahmen des Seminars „Genealogie des Erinnerns im Spannungsfeld zwischen Politik und Politisierung in Rwanda und Bosnien-Herzegowina“ bin ich im Februar des Jahres 2011 nach Bosnien-Herzegowina gereist, um Gespräche vor Ort zu führen, sowie diverse Gedenkstätten zu besichtigen.

All dies sollte ein tiefergehendes Verständnis für eben jene Thematik schaffen, letztlich muss ich aber gestehen, dass ich zu Beginn der Exkursion zwar auf einen vermeintlich großen Wissensschatz zurückgreifen konnte, dies jedoch nicht unbedingt „hilfreich“ war.  Denn wenn ich eine generelle Sache gelernt habe, dann dass das dortige komplexe Identitäts- und Beziehungsgebilde für eine stringente Analyse kaum zugänglich ist, insofern Identität oder Ethnie einer dynamischen Zuschreibung unterliegen – überspitzt formuliert bedeutet dies, dass Geschichte und Gegenwart beliebig ausgelegt werden.

Erschwerend hinzu kommt die Tatsache, dass der Krieg in Bosnien-Herzegowina unterschiedliche Arten bzw. Austragungsmodi aufwies und in der Folge Vergangenheitsaufarbeitung je unterschiedlich erfolgte bzw. erfolgen musste. Daran anknüpfend bedingte die politische Nachkriegsordnung auf Basis des Dayton-Abkommens eine ethnische Homogenisierung, welche sich ebenso auf die aktuelle Auseinandersetzung mit dem Krieg in den einzelnen Regionen niederschlägt, wenn nicht sogar maßgeblich leitet.

Zwar lag das Augenmerk der Reise ob der Anzahl der Gespräche vornehmlich auf Srebrenica, jedoch habe ich mich ebenso in Mostar und insbesondere Sarajevo aufgehalten, was mich mit o.g. Aspekten in Berührung gebracht und schließlich dazu geführt hat, dass ich mit deutlich mehr Fragezeichen wieder zurückgekehrt bin. Aufbauend auf dieser relativ unbefriedigenden Situation habe ich einen Essay geschrieben, der mir geholfen hat meine Gedanken zumindest ansatzweise zu ordnen und in Verbindung zu theoretischen Ansätzen zu bringen.

Eben diesen Essay findet ihr nach einer ganz kurzen Übersicht zu Bosnien-Herzegowina, der im besten Falle eine spannende Diskussion innerhalb des AKs anregt bzw. zumindest einige Denkanstöße, die ihr eventuell im (Studien-) Alltag ausweiten könnt, liefert. Hiernach findet ihr Literaturhinweise zu Erinnerungskulturen in Osteuropa, sowie einige kommentierte Bilder aus Bosnien-Herzegowina, aber auch aus Stationen meiner anschließenden Reise.

 

1.    Kurzer Überblick zu Bosnien-Herzegowina

Quelle 1
Quelle 2

Bosnien-Herzegowina war eine der sechs Republiken (Bosnien-Herzegowina, Slowenien, Mazedonien, Montenegro, Serbien und Kroatien), die die 1945 ausgerufenen föderativen Volksrepublik Jugoslawien bildeten. Der Krieg am Gebiet des ehemaligen Jugoslawien auch ihre Ursachen und Entstehung zeichnen sich durch hohe Komplexität aus. Stark verkürzt lassen sich die Gründe mit folgendermaßen beschreiben:

o    problematischer und manipulierender Umgang mit der Geschichte. Es gibt unterschiedliche und in sich widersprüchliche historische Erfahrungen
o    Mythologisierung der geschichtlichen Ereignisse und damit verbundene Schaffung historischer Scheinrealitäten
o    Unbewältigte Vergangenheit (z.B. Erfahrungen des 2. Weltkrieges, ungelöste Nationalitätenfrage)
o    Nationalismus und die Politik der ethnischen Mobilisierung und Differenzierung verbunden mit dem Wunsch nach ethnisch reinen Territorien
o    Modernisierungskonflikte ab Mitte der 80er Jahre wurden immer häufiger entlang ethnischer Linien ausgetragen
o    Zusammenbruch der herrschenden Ideologie und damit verbunden die Schwächung der Kommunistischen Partei.

„Dieser Strukturwandel in Richtung einer Dezentralisierung und Föderalisierung stärkte die nationalen Kategorien zu verfestigen. Fast in allen Teilrepubliken gelangten national orientierte Parteien und Koalitionen an die Regierung. Auch in Bosnien erheben die nationalistischen Parteien den Alleinvertretungsanspruch ihrer jeweiligen Nation.“

o    Probleme der Transformation nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes und dem Wegfall der bipolaren Weltordnung
o    Verlust der privilegierten geopolitischen und strategischen Position des jugoslawischen Staates durch den Umbruch 1989/90
o    Soziale Gegensätze zwischen den einzelnen Republiken und Völkern (Regionale Entwicklungsunterschiede, Nord-Süd-Gegensatz)
o    Religiöse Gegensätze und Instrumentalisierung der religiösen Gefühle
o    Wirtschaftliche Schwierigkeiten (Nord-Süd-Gefälle; Arbeitslosigkeit, Inflation, Auslandsverschuldung, Rückgang der industriellen Produktion…)
o    Außenpolitische Einflüsse (Weltpolitische Wandel, Unabhängigkeitserklärungen, Nationale Bewegungen)

Erste Auflösungserscheinungen des zerfallenden Jugoslawiens zeigten sich durch Unabhängigkeitserklärungen Sloweniens und Kroatien Anfang der 90er Jahre. Nach längerem Tauziehen auf diplomatischer Ebene verkündeten Slowenien und Kroatien am 25. Juni 1991 ihre Souveränität. Der Kosovo, Makedonien auch Bosnien-Herzegowina folgten dem Beispiel. Als Bosnien-Herzegowina den Weg der Unabhängigkeit ging, eskalierte der Konflikt auch in dieser ex-jugoslawischen Republik und somit begann eines der grausamsten Kapitel der europäischen Geschichte nach dem zweiten Weltkrieg, nämlich der Krieg in Bosnien-Herzegowina (1992-1995).

Das Massaker von Srebrenica

Srebrenica liegt in einem grünen Talkessel im Osten von Bosnien und Herzegowina, nahe der Grenze zu Serbien. Vor Beginn des Bosnienkrieges 1992 hatte die Kleinstadt etwa 8000 Bewohner. Im Laufe des Konflikts vervielfacht sich diese Zahl: Zehntausende Menschen drängen aus den umliegenden Dörfern nach Srebrenica. Es sind vor allem bosnisch-herzegowinische Muslime, die Schutz vor den Soldaten des Generals Ratko Mladic suchen. Der Befehlshaber der bosnischen Serben zieht den Belagerungsring um die muslimische Enklave immer enger. In Srebrenica wähnen sich die Flüchtlinge in Sicherheit. Die UN hat das Gebiet zur Schutzzone erklärt. Niederländische und kanadische Truppen sollen dafür bürgen. Doch der politische Führer der bosnischen Serben, Radovan Karadzic, und sein Militärchef Mladic lassen sich nicht aufhalten. Am 11. Juli 1995 nehmen die bosnisch-serbischen Einheiten die Stadt ein und begehen einen schrecklichen Massenmord.

Mehrere tausend Flüchtlinge versuchen durch die Wälder in Richtung bosnisch-muslimisch kontrolliertes Gebiet zu entkommen. Andere Flüchtlinge sehen den Stützpunkt der niederländischen Blauhelmsoldaten als letzte Hoffnung. Deren Basis liegt im sechs Kilometer entfernten Dorf Potocari, das zur Enklave Srebrenica zählt. Am Abend des 11. Juli drängen sich etwa 25.000 Menschen auf dem Gelände der ehemaligen Batteriefabrik, die meisten von ihnen Frauen, Kinder und Alte. Nahrung und Wasser sind knapp. Es herrscht Chaos. Viele der Flüchtlinge übernachten im Freien.

Von Srebrenica rücken die Einheiten von Mladic schon bald nach Potocari vor. Am 12. und 13. Juli beginnen die Soldaten dort Frauen und Männer zu trennen. Sie geben vor, nach Kriegsverbrechern zu suchen. Die etwa 350 Blauhelme auf dem UN-Stützpunkt sind überfordert. Ihnen fehlt das Mandat einzugreifen. So sehen die Niederländer tatenlos zu, wie Mladic seine gezielte „ethnische Säuberung“ fortsetzt: Frauen und Kinder werden auf Lastwagen und Bussen abtransportiert und bis kurz vor bosnisch-muslimisch kontrolliertes Gebiet gebracht. Die zurückgebliebenen Männer, die meisten von ihnen im wehrfähigen Alter, werden von Mladics Männern an verschiedenen Orten hingerichtet und verscharrt. Um den Massenmord an den etwa 8000 Menschen zu verschleiern, heben die Täter einige Gräber später wieder aus und verteilen die menschlichen Überreste auf andere Gebiete. Das Umbetten der Leichen findet auch nach Ende des Krieges noch statt.

Die UN deklariert das Massaker an den bosnischen Muslimen als Völkermord. Ende Februar 2007 bewertete der Internationale Gerichtshof die Gräueltaten ebenfalls als Genozid. Einige der Täter hat das UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag schon verurteilt. Das Verfahren gegen den Ex-Präsident der bosnischen Serben, Karadzic, läuft noch. Er wurde erst 2008 gefasst. Einer der mutmaßlichen Hauptverantwortlichen, Ratko Mladic, muss sich mittlerweile ebenfalls vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag verantworten.

Weiterführende Literatur

o    HSFK 2009. Standpunkte. Von der Krise in den Krieg? Vierzehn Jahre nach Kriegsende wächst in Bosnien und Herzegowina die Gewaltbereitschaft 
o    Joshua N. Weiss. Tuzla, The Third Side, and the Bosnian War
o   Timeline: Siege of Srebrenica