Meine kanadisch-ukrainisch-deutsche Sicht des Anfangs des Euromaidan

(Alexandra Jadwiga Wößner)

Dieser Beitrag befasst sich mit meiner persönlichen Wahrnehmung, als die Unruhen in Kiev begannen. Zu jenem Zeitpunkt befand ich mich in Edmonton, Alberta, Kanada und studierte Ukrainistik an der University of Alberta. In Kanada leben mehr als eine Million Menschen ukrainischer Herkunft. Besonders in Edmonton scheinen sie einflussreich zu sein, weil sie dort eine der größten Minderheiten darstellen. Alleine durch mein Studium war ich im engen Kontakt mit Ukrainerinnen und Ukrainern, aber mein großes Interesse an der Ukraine motivierte mich dazu, mich schnell in ukrainischen Kreisen außerhalb der Universität wiederzufinden. Somit konnte ich hautnah die Reaktionen der Kanadier-UkrainerInnen auf die Euromaidan-Proteste miterleben.

Der Euromaidan tauchte als Hashtag zuerst auf Twitter-Accounts auf und gab den Protesten, die sich meist auf dem Majdan Nesaleschnosti (Platz der Unabhängigkeit) in Kiev seit dem 21. November 2013 abspielten, einen Namen. Wie bereits ersichtlich, setzt sich der Name aus Europa und Maidan zusammen, um auf die proeuropäische Haltung der Demonstrierenden aufmerksam zu machen. Der friedliche Protest wurde durch den Beschluss der ukrainischen Regierung hervorgerufen, das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union nicht unterzeichnen zu wollen. Dieser Beschluss kam sowohl für die Ukrainerinnen und Ukrainer als auch für die Ukrainischstämmigen in Kanada sehr überraschend.

Die Ukrainerinnen und Ukrainer, die sich mit ihren Verwandten, Angehörigen und Freunden in Kanada in Verbindung setzten, gaben an, sich von der Regierung betrogen zu fühlen und fragten sich, wie sich die Regierung anmaßen konnte, über das Volk hinweg eine Entscheidung zu treffen, die nicht mit der Meinung der Mehrheit konform sei. Die Enttäuschung war auch bei den kanadischen Ukrainerinnen und Ukrainern groß, sodass schon am 24. November 2013, also drei Tage nach Beginn der Euromaidan-Proteste in Kiev, bereits eine Demonstration auf dem Churchill Square in Edmonton stattfand. Als Grund für die Demonstration wurde die Solidarisierung mit den Protestierenden in Kiev genannt. Ein Nachrichtendienst war auch vor Ort, berichtete von der Demonstration und interviewte einige Protestierende. Für die Demonstration wurde auf facebook und in den ukrainischen Nationalkirchen im Gottesdienst geworben. Die Protestierenden hatten sich erkenntlich gemacht, indem sie Ukraine- oder Europaflaggen in die Höhe hielten. Die Demonstrierenden sangen ukrainische Volkslieder und hielten Ansprachen, in denen sie ihre Sorgen und ihren Unmut in mündlicher Form darboten. Die Plakate hatten folgende Aufschriften: „Europa braucht die Ukraine“, „Putin – Finger weg von der Ukraine“, „Edmonton unterstützt die Ukraine“, „Die Ukraine ist Europa“ und „Kein Russland zwischen der Ukraine und Europa“. Sie deuteten an, dass Euromaidan nicht nur Kritik an der Entscheidung der Regierung übe, sondern direkt die Regierung kritisiere. Es wurde auch erwähnt, dass der Einfluss von Russland auf die Ukraine durch den ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowytsch gewollt sei und bewusst auf diese Weise gelenkt wurde. Rücktrittsforderungen an Präsident Janukowytsch stellten zwar nicht die Kernforderung der Demonstrierenden auf dem Churchill Square dar, aber sie schwangen in den Aussagen der Demonstrierenden mit. Nach circa einer Stunde löste sich die Gruppe der Protestierenden auf und jeder ging seinen Weg – mit der Absicht, so schnell wie möglich wieder Kontakt zu Freunden und Verwandten in der Ukraine aufzunehmen.

Die Höhepunkte der Kiever Proteste sollten bedauerlicherweise erst folgen. Sie lösten noch größere Ängste und Sorgen bei den Ukrainerinnen und Ukrainern in Edmonton aus und führten dazu, dass sich insgesamt mehr Menschen engagierten und es mit jeder Demonstration mehr Demonstrierende gab. Für mich im konkreten Fall hieß es auch, mich mehr über die Ukraine zu informieren und vor meiner Abreise an einer zweiten Demonstration teilzunehmen. Meinen Professorinnen, Professoren und Kommilitoninnen ukrainischer Herkunft hat man die Sorge wirklich angesehen. Sie sagten mir, dass sie nachts nicht schlafen könnten und ihm ständigen Kontakt mit der Ukraine wären. Eine Professorin entschuldigte sich sogar gegen Ende des Semesters (Anfang Dezember), dass die Qualität ihrer Veranstaltung durch die Unruhen in der Ukraine so nachgelassen hätte. Eine Kommilitonin machte sich schwere Vorwürfe, dass sie nicht auf dem Maidan sein könne, um die Protestierenden dort zu unterstützen.

Zu Beginn der Unruhen in Kiev habe ich viel Menschlichkeit in Edmonton erlebt. Ich sah viele Menschen, die sehr besorgt waren um ihre Angehörigen und es nur schwer ertragen konnten, dass in ihrer Heimat die Situation so angespannt war. Von Herzen wünschte ich ihnen alles Gute und hoffte auf einen gewaltfreien und schnellen Ausgang der kritischen Situation. Leider mündete der Euromaidan in die Krim-Krise und den Konflikt in der Ostukraine. Ein Ende ist betrüblicherweise nicht in Sicht. Ich hoffe sehr, dass ich nächste Woche in Kiev und in Lviv (auf der Studienfahrt des AK Osteuropas) wieder auf diese Menschlichkeit stoße, da mir in Deutschland und in der deutschen Presse das Mitgefühl und Verständnis für die protestierenden Menschen in Kiev und anderen Städte dieser Welt unzureichend erscheint.

Möge die Studienfahrt nächste Woche für uns in vielerlei Hinsicht eine hilfreiche Erfahrung sein.

Konfliktlinie Kapital und Arbeit: Die ukrainische Sozialdemokratie (Teil 1)

(Dmitri Stratievski, FU Berlin)

Einst zweitwichtigste Unionsrepublik der UdSSR, heute zweitgrößter Staat Europas. Doch wie bekannt ist die Ukraine? Politisch Interessierte können außer Tschernobyl, Klitschko und Schewtschenko (nicht den Nationaldichter, sondern den Fußballspieler) noch ein paar Spitzenpolitiker nennen. Kaum bekannt ist die lange sozialdemokratische Tradition des Landes, die mehr als 100 Jahre zurückreicht.

Geschichte     
Die heutige Ukraine besteht aus mehreren historisch unterschiedlich gewachsenen Regionen. Bis 1918 gehörten traditionelle Ansiedlungsgebiete der Ukrainer hauptsächlich dem Russischen Reich und Österreich-Ungarns. Während die Zentral- und Ostukraine russisch war, wurde 1772 das westukrainische Galizien im Zuge der Ersten Polnischen Teilung österreichisch. Am Anfang des XX. Jahrhunderts lag die Anzahl der ukrainischen Bevölkerung (im damaligen Sprachgebrauch „Ruthenen“) im Ostgalizien trotz der Assimilierungspolitik Wiens bei 70 Prozent, über 90 Prozent davon waren Bauern. Die Unruhen 1848 und darauf folgende Josephinische Reformen wie Agrarreform und die Aufhebung des Leibeigenschaftsrechtes eröffneten breite Perspektiven für eine vollzogene wirtschaftliche Entwicklung der Provinz und gaben entscheidende Impulse für die Emanzipation der Ukrainer und für neue politische Ideen.

 Erste sozialistische Bauernpartei in Europa: Russisch-Ukrainische Radikale Partei RURP
Die Ukrainer bekamen zum ersten Mal politische Vertretung im Parlament: im Juni 1848 gelangten nach den Wahlen 25 Ukrainer (15 Bauern, 8 Priester und 2 Vertreter der städtischen Intelligenz) in den reformierten Reichsrat. Im Laufe der Zeit kam es zur Spaltung der westukrainischen Nationalbewegung, die zwei Konfliktlinien beinhaltete. Zum Ersten geopolitisch: pro-russisch (Russland als Kernstadt der slawischen Welt) vs. völlig eigenständig, zum Zweiten ideologisch: nationalkonservativ vs. sozialdemokratisch. 1890 entstand in Galizien die erste legale ukrainische Partei und zugleich die erste sozialistische Bauernpartei in Europa – die Russisch-Ukrainische Radikale Partei RURP.

Das Wort „radikal“ trug in diesem Kontext keine extreme Bedeutung, sondern betonte eine klare Ablehnung der national-konservativen Strategie. Das Parteiprogramm von 1895, vor allem vom Parteigründer Schriftsteller Iwan Franko verfasst, hatte folgende Schlüsselforderungen: Meinung-, Versammlung- und Pressefreiheit, weite Autonomie der Ukrainer inkl. Verwaltungsreform sowie kulturelle Entwicklung der Völker. Im Text wurden Begriffe wie Freiheit, Solidarität und Gleichberechtigung verankert. Aus bevölkerungsstrukturellen Gründen in Galizien verstand die Partei das Bauerntum, die tragende ukrainische Schicht, als ihre Zielgruppe. 1897 zogen drei RURP-Vertreter ins Regionalparlament ein. 1911 hatte die Partei fünf Sitze in Wien und drei Sitze im Sejm von Galizien.

Ukrainische Sozialdemokratische Partei USDP
Als Antwort auf zunehmende Industrialisierung der vormals wirtschaftlich unterentwickelten Provinz und Etablierung der ukrainischen Arbeiterschaft wurde 1899 die Ukrainische Sozialdemokratische Partei USDP gegründet. Die Partei galt als ukrainische Sektion der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs, teilte ihr Parteiprogramm und pflegte freundschaftliche Beziehungen zur RURP. Die USDP gab eigene Zeitung „Freiheit“ heraus. 1907 gewann die Partei zwei Sitze im Reichsparlament. Sie war aktives Mitglied der Zweiten Internationale. Beide westukrainische sozialdemokratische Parteien wurden bis zum Zusammenbruch Österreich-Ungarns ausschließlich aus Privatspenden finanziert.

In der ukrainischen sozialdemokratischen Bewegung im Russischen Reich kam es zur Bildung zweier konkurrierenden Strömungen: russlandstreue Sozialdemokraten (Fraktion der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei RSDRP) und nationalbewusste Sozialdemokraten (vereinigt in der 1900 gegründeten Revolutionären Ukrainischen Partei RUP). Eine extreme Parteiprogrammatik der RUP, ihre Hochstilisierung des Ukrainetum und Unabhängigkeitsappelle an der Grenze zur Nationalismus verursachen eine weitere Spaltung: 1905 wurden die Ukrainische Sozialdemokratische Union USDS, auch Spilka (Union) genannt (Minderheit, zentristisch, pro-russisch) und Ukrainische Sozialdemokratische Arbeiterpartei USDRP (Mehrheit, links, Unabhängigkeitsstrebungen). 1906 war jedoch die gemäßigte Spilka mit ihrer Parole „Demokratie heute, Autonomie morgen!“ eine führende politische Kraft im Süden der Ukraine und zählte bis zu 7.000 Mitglieder. Bei den zweiten Duma-Wahlen gewann sie 14 Mandate.

Nach den Februar- und Oktoberrevolutionen 1917 in Russland betonten Wladimir Winnitschenko und Simon Petljura, die Anführer der kurzlebigen ukrainischen souveränen Staaten, ihr Bekenntnis zum rechten Flügel der Sozialdemokratie. Seine Handlungen im damaligen politischen Kontext trugen aber nationalistische und konservative Züge. Nach dem Fall der Ukrainischen Volksrepublik und Sieg der Bolschewiki im Bürgerkrieg wurden alle nicht kommunistische Parteien verboten. Die ukrainische sozialdemokratische Bewegung funktionierte weiter nur im polnisch kontrollieren westukrainischen Raum, in Galizien und Wohlhynien. Die Neugründung Ukrainische Sozial-Radikale Partei USRP, in der sich Sozialdemokraten, Sozialisten und Sozialrevolutionären zusammenschlossen, war kaum bedeutend. In der westukrainischen Gesellschaft gewannen die Nationalisten um die Organisation der Ukrainischen Nationalisten OUN die Oberhand.

 

Original: Vorwärts