Zwischen „Billiglohn“ und „Fachkräftemangel“ – Migration aus Osteuropa heute (Veranstaltungsbericht)

(Kristin Eichhorn, Hanne Schneider)

Nach dem „langen Sommer der Migration“ in 2015 ist die Debatte vergangener Jahre um (Arbeits-)Migration aus Ostmittel- und Südosteuropa in den Schatten gerückt. Das Thema Asyl bestimmt die Beziehungen zu den Nachbarländern und Transitstaaten außerhalb der EU. Nach sieben Jahren EU-Freizügigkeit mit den EU-15 Ländern und vier Jahren freiem Arbeitsmarkt für RumänInnen und BulgarInnen sind viele Fragen offen: Was ist aus der Angst vor „Billlohn-“ oder „Armutsmigration“ geworden? Und was benötigen wir eigentlich für einen echten (sozialen) Europäischen Arbeitsmarkt, auch im Hinblick auf Debatten um Fachkraftmangel?

Mit diesen und weiteren Fragen beschäftigten wir uns im Rahmen eines Workshops beim Wiedersehen von FES-Ehemalige e.V. Unter dem Titel „Zwischen „Billiglohn“ und „Fachkräftemangel“ – Migration aus Osteuropa heute“ haben wir gemeinsam mit ExpertInnen und Interessierten diskutiert.

Entwicklung der Debatte um Migration in Deutschland und Europa seit den 1990er Jahren.

Zum Einstieg gab Hanne Schneider (Migrationswissenschaftlerin und Mitarbeiterin der TU Chemnitz) einen Überblick über die Entwicklung der Debatte um Migration aus Mittel- und Osteuropa seit den 1990er Jahren und zeigte somit auch die Komplexität des Themas auf. Migration bestimmt bereits seit dem Zusammenwachsen Europas nach dem Fall des eisernen Vorhangs die Beziehungen insbesondere auch zu den mittel- und südosteuropäischen Ländern. Hier zu nennen sind beispielsweise die Fluchtmigration infolge der Jugoslawienkriege, der Umgang mit AussiedlerInnnen, eine hoher Anteil an der Binnenmobilität innerhalb der EU oder auch die Debatte um sog. „Wirtschaftsflüchtlinge“ aus den Westbalkanländern.

Dominique John (DGB – Faire Mobilität) präsentierte uns das DGB-Projekt „Faire Mobilität“. Durch dieses Projekt, können sich ArbeitsmigrantInnen an Beratungsstellen in ganz Deutschland wenden. Neben einem Überblick über die häufigsten Beschäftigungsformen (Transport/Lager/Logistik, Baugewerbe, Gebäudereinigung, Fleischindurstrie), schilderte uns Dominique John typische Fallkonstellationen, beispielsweise Unterschreitung des Mindestlohns, oder gänzliche Einbehaltung des Lohns sowie katastrophale Bedingungen in der Unterbringung.

Im Anschluss gab Bartosz Rydliński (polnischer Sozialdemokrat und Mitbegründer des Ignacy Daszyński Center) einen Einblick in die polnische Perspektive. Viele verbinden mit Polen ein Herkunftsland vieler ArbeitsmigrantInnen. Allerdings ist insbesondere seit dem Ukrainekonflikt auch ein Aufnahmeland ukrainischer MigrantInnen, welche unter schwierigen Bedingungen arbeiten und leben.

Eine ukrainische Arbeitsmigrantin verliert einen Arm bei der Arbeit. Ihr Arbeitgeber weist jede Verantwortung von sich (Screenshot http://poznan.wyborcza.pl).

Zum Abschluss gab uns Tobias Thimm (Verwaltungswissenschaftler und ehemaliger Praktikant der FES) einen Einblick in die Situation in Bulgarien. Seine Masterarbeit „Die Migration bulgarischer Staatsbürger nach Deutschland“ beschäftigt sich mit den positiven und negativen Auswirkungen der Arbeitsmigration auf Bulgarien als Herkunftsland. Während bestimmte Aspekte eines sog. ‚brain drain‘ zu erkennen sind und Abwanderung ganzer Abschlussklassen zwar gesellschaftliche Schwierigkeiten verursachen, sind die finanziellen Rückweisungen sowie das erworbene Wissen der RückkeherInnen von großer Bedeutung. Zentral sei es in Bulgarien die soziale Spaltung zu verringern und Institutionen zu stärken.

Ergebnissicherung der Abschlussdiskussion

In einer abschließenden Diskussion im World-Café Format sammelten wir gemeinsam mit den Referentinnen Thesen zur Gestaltung der Arbeitsmigration in und aus Mittel- und Osteuropa.  Sowohl die Herkunftsländer als auch die Aufnahmeländer (und Deutschland im speziellen) haben noch einige Hausaufgaben offen haben: In Deutschland existieren bereits viele Arbeitnehmerrechte, allerdings müssen die Schutzaufgaben innerhalb Deutschlands für ArbeitsmigrantInnen ernst genommen werden. Eine Möglichkeit zu Umsetzung wäre die Stärkung der Gewerkschaften und ein gezieltes Heranführen der ArbeitsmigrantInnen an die Gewerkschaften. Zudem müssen EU-Standards aktiv umgesetzt werden. In den Herkunftsländern sollte weiterhin das Vertrauen in die staatlichen Institutionen gestärkt werden und die Rolle der Zivilgesellschaft unterstützt werden.

Wir bedanken uns bei allen ReferentInnen für den wertvollen Input und Teilnehmenden für die angeregte Diskussion. Zudem danken wir FES-Ehemalige e.V. für die Ermöglichung der Durchführung des Workshops.

Das 19. Deutsch-Polnische Forum: Gemeinsam für ein starkes Europa?

Am 23. Oktober 2018 fand das 19. Deutsch-Polnische Forum in Berlin statt. Paula Lange war vor Ort und hat die Eindrücke der Veranstaltung zusammengefasst.

„Deutschland und Polen – gemeinsam für ein starkes Europa“ – so lautete der Titel des diesjährigen Deutsch-Polnischen Forums in Berlin. Wie „gemeinsam“ und „stark“ die deutsch-polnischen Beziehungen im Jahr 2018 aussehen, sollte im Laufe des Tages mehrmals in Frage gestellt werden. Zunächst wurden im Rahmen einer Eröffnungsdiskussion zwischen polnischen und deutschen Politiker*innen die hervorragenden wirtschaftlichen Beziehungen der beiden Länder betont. Daraus resultiere eine starke Partnerschaft, die auch Streitigkeiten ertragen könne, welche beispielweise im Rahmen dieses Forums auf Augenhöhe diskutiert und besprochen werden könnten. Zu den positiven Errungenschaften der letzten 25 Jahre zählt laut der Generalkonsulin in Danzig, Cornelia Pieper, besonders der lebendige, zivilgesellschaftliche Austausch zwischen den Nachbarländern.

Neben diesen positiven Unterstreichungen nutzten die Politiker*innen die Eröffnungsdiskussion jedoch vor allem für Kritik: Der SPD-Abgeordnete Dietmar Nietan kritisierte, dass es beim diesjährigen Treffen kein „junges Forum“ gäbe, das die Stimme der jüngeren Generation repräsentieren würde. Diese sollten öfter angehört werden, auch wenn Politiker*innen dazu neigen würden, sich vor allem gerne selbst beim Reden zuzuhören. Diese Aussage stieß vor allem bei den jüngeren Teilnehmer*innen im Publikum auf deutliche Zustimmung. Der Bündnis 90/die Grünen-Abgeordnete Manuel Sarrazin sprach als erster das an diesem Tag besonders heikle Thema der Justizreformen in Polen an. Er übte deutlich Kritik an den Reformen und verwies auf das EuGH-Urteil vom 19. Oktober, das dem Antrag der EU-Kommission stattgab und bestätigte, dass die Zwangspensionierung der Richter*innen des Obersten Gerichts in Warschau rückgängig gemacht werden müsse. Sarrazin kritisierte aber auch die Medienberichterstattung in Deutschland, die ein zu negatives Bild auf Polen hervorrufen würden. Von polnischer Seite hagelte es ebenfalls deutlich Kritik: Das dominierende Thema des Tages von polnischer Seite sollte Nord-Stream 2 werden. Durch das deutsch-russische Abkommen zur Energieversorgung durch Erdgas, das durch Pipelines durch die Ostsee nach Deutschland transportiert werden soll, fühlen sich Polen, die Ukraine und das Baltikum in ihren Interessen verletzt und über den Tisch gezogen. Zumal auch die EU das Projekt sehr kritisch sieht. Von deutscher Seite kamen beim deutsch-polnischen Forum diesbezüglich (leere) Entschuldigungen, die aber nichts daran ändern, dass Nord Stream 2 ab Ende 2019 in Betrieb genommen werden soll. Lediglich Manuel Sarrazin kritisierte die Haltung der deutschen Bundesregierung vor allem mit dem Verweis darauf, dass „Nord Stream 2 darauf baut, dass Deutschland seine Klimaziele nicht erreichen wird“.

Der PiS-Politiker und Staatssekretär des polnischen Außenministerium Szymon Szynkowski vel Sęk sprach ein weiteres heikles Thema an: Die Beziehungen zu Präsident Donald Trump. Er forderte mehr Respekt von deutschen Politiker*innen für den demokratisch gewählten 45. Präsidenten der USA. Die Midterm-Wahlen am 6. November 2018 werden sich vermutlich entschieden auf die deutsch-polnischen Beziehung der näheren Zukunft besonders im Bezug auf EU-Außen- und Sicherheitspolitik auswirken.

Nach dieser etwas nüchternen Bestandsaufnahme der aktuellen Situation sowie einem eher düsteren Ausblick auf die nächste Zeit folgte als nächster Programmpunkt der Austausch in vier verschiedenen Arbeitsgruppen zu folgenden Themen: Sicherheitspolitik, Infrastruktur, Europawahl 2019 und Energiepolitik. Auch hier zeichneten sich in allen vier Arbeitsgruppen mehr Differenzen und Konflikte, als ertragreiche Zusammenarbeit und Verständnis für die jeweils andere Position ab. Als gemeinsamer Nenner wurde jedoch auf beiden Seiten folgender Wunsch deutlich formuliert: Eine schnellere Zugverbindung zwischen Berlin und Warschau unter vier Stunden.

Am Nachmittag diskutieren dann Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Präsident Andrzej Duda zum Thema „Europa 1918-2018: Geschichte mit Zukunft“ anlässlich des diesjährigen 100. Jahrestags der Wiedererlangung der polnischen Unabhängigkeit. Trotz des relativen klaren Bezugs zur Geschichte und Geschichtspolitik im Titel der Veranstaltung nutzten beide Präsidenten den Rahmen anderweitig: Präsident Duda ließ sich die Gelegenheit nicht nehmen, um erneut Nord Stream 2 sowie den Schulterschluss zwischen Deutschland und Russland zu kritisieren, die Angst in Polen und einen Vertrauensverlust auslösen würden. Zudem arbeite die EU nicht mehr nach ihren Grundsätzen, sondern mische sich mit dem EuGH-Urteil in innenpolitische Prozesse ein. Er begründete die Reformen erneut als notwendig, um einen Generationswechsel einzuleiten sowie Richter*innen, die bereits in der Volksrepublik Polen als Richter*innen gearbeitet hätten, aus ihrem Amt zu entheben (auf Nachfrage konnte er allerdings nicht sagen, auf wie viele Richter*innen dies zutreffen würde). Präsident Steinmeier konterte, dass alle Mitgliedstaaten wussten, worauf sie sich einließen, als sie sich bemühten in die EU aufgenommen zu werden, sodass beispielsweise das EuGH-Urteil keine Überraschung, sondern eine logische Konsequenz der Mitgliedschaft darstellen würde. Er warnte zudem davor, die EU als „fremde Macht“ anzusehen und wies darauf hin, dass die Mitgliedstaaten selbst Einfluss auf die EU nehmen würden und aktive Entscheidungsträger seien. In der abschließenden Fragerunde meldete sich eine junge Teilnehmerin, die in Krakau studiert, und fragte die beiden Präsidenten, welches konkrete Angebot sie der jüngeren Generation machen könnten, damit diese sich in den deutsch-polnischen Beziehungen politisch engagieren könnten. Frank-Walter Steinmeier resümierte, junge Menschen hätten „so gute Möglichkeiten wie nie“ um sich zu engagieren, Andrzej Duda ermunterte zur Gründung von Stiftungen, NGOs und Think-Tanks. Diese leeren Aussagen beider Präsidenten, die das Anliegen der jungen Teilnehmerin(*nen) nicht wirklich ernst zu nehmen schienen, war sinnbildlich für das gesamte Forum: Viele leere Worte, keine konkreten Maßnahmenvorschläge, viel Kritik und umso weniger positive Resonanz der binationalen Beziehungen. Weder ein „starkes Europa“ wird zurzeit von beiden Ländern angestrebt, noch arbeiten Deutschland und Polen gerade abgesehen vom wirtschaftlichen Bereich „gemeinsam“ erfolgreich an verschiedenen Themen. Ob das Deutsch-Polnische Forum in diesem Jahr genutzt werden konnte, um Meinungsverschiedenheiten zu klären und Streitigkeiten beizulegen, bleibt abzuwarten. Das immer schwierige Verhältnis zwischen den Nachbarn scheint auf einem neuen diplomatischen Tiefpunkt seit dem Zusammenbruch der Ostblock-Staaten angekommen zu sein. Kurz gesagt: Es kann nur besser werden!

Deutsch-Polnisches Forum am 23.10.2018 (Foto: Paula Lange)

Polen vor einer Bewährungsprobe

(Alexander Jan Astapczyk)

Vor kurzem durfte Beata Szydło, polnische Ministerpräsidentin der PIS-Partei mit absoluter Parlamentsmehrheit, auf ihre ersten 100 Tage in diesem Amt zurückblicken. Ob Szydło die verabschiedeten Gesetze, Regierungsvorhaben und entstandenen Spannungen in der Zivilgesellschaft ebenso wahrnimmt wie viele ihrer Landleute, darf dabei bezweifelt werden.

Ein wohl beispielloses Tempo hinsichtlich der Verschiebungen der Machtstrukturen zeichnet die ersten Monate ihrer Amtszeit ebenso aus, wie die bewusst lancierten Beschwichtigungen, dass die aktuellen politischen Geschehnisse sich absolut im Bereich dessen bewegen, was die polnische Verfassung sowie europäisches Recht als legitim ausweisen.

Die praktische Entmachtung des polnischen Verfassungsgerichts sowie der verstärkte Einfluss auf die öffentlich-rechtlichen Medien stellen gerade für Europäer_Innen, die außerhalb Polens leben die wohl einschlägigsten Beispiele in jüngster Zeit für die Berichterstattung über Geschehnisse in Polen in den eigenen Medien dar.

Dass sich auch die Vorgängerregierungen unter der heute oppositionellen PO-Partei an diesen beiden, für die polnische wie auch andere Demokratien unabdingbaren Grundpfeilern versucht hat, wird bei den aktuellen Diskussionen und Konfrontationen mit Polen, die sich der PIS-Doktrin gegenüber verpflichtet fühlen, immer gerne aufgeführt. Eine andere politische Agenda hinsichtlich der EU und den anderen Mitgliedsstaaten mag dabei wohl auch für die wenig vorhandene bzw. beachtete Berichterstattung im Ausland verantwortliche gewesen sein. Nichtsdestotrotz ist das Verhalten der Vorgängerregierungen in keiner Weise mit dem jetzigen Verhalten der PIS-Regierung gleichzusetzen. So wurde gerade hinsichtlich des Verfassungsgerichts dessen Unabhängigkeit gegenüber Regierung und Parlament bewahrt.

Ganz anders verhält es sich bei dem jetzigen politischen wie auch juristischen Schlagabtausch zwischen dem Verfassungsgericht und der polnischen Regierung. Neben den Diskussionen um die Einleitung des Rechtsstaatsmechanismus durch die EU wurden vergangene Woche ebenfalls die Vorgänge durch die vom Europarat eingesetzte Venedig-Kommission kritisiert. Ausgangspunkt der dortigen Kritik sind vor allem die verabschiedeten Verfahrensregeln des Verfassungsgerichts, die eine nachhaltige Lähmung verursachen.

Inwiefern der Schlagabtausch letztlich ein zufriedenstellendes Ergebnis hervorrufen kann, wird abzuwarten sein. Der Verstoß der Verfassung durch die beschlossenen Gesetze, die das Verfassungsgericht betrafen und die vom Verfassungsgericht vergangene Woche zurückgewiesen worden sind, werden von der Regierung weiterhin als illegitim nach den neuen Gesetzen und somit als widerrechtlich betrachtet.

Das Jarosław Kaczyński, als eigentlicher Urheber der verabschiedeten kontroversen Gesetze der vergangen Monate, der größte Gewinner dieser Staatskrise ist, wird wohl nicht bestritten werden können. Als einfacher Abgeordneter, hat er sich als Strippenzieher im Hintergrund zur mächtigsten Person Polens instrumentalisiert, die jede wichtige Personalie als auch Entscheidung der polnischen Regierung als auch derer absoluten Parlamentsmehrheit zu beeinflussen weiß. Nach dem großen Einfluss, die er nun noch auf die öffentlich-rechtlichen Medien aufzuweisen hat, wird die weitere Entwicklung um die Rolle des Verfassungsgerichts mehr denn je gespannt zu verfolgen sein.

Abzuwarten bleibt dabei vor allem, ob er tatsächlich einen Teil der parlamentarischen Opposition einspannen wird, um eine Verfassungsänderung und einen Kompromiss zu erzielen, der die PIS-Partei gegebenenfalls als Lösung und nicht ihr Handeln als Ursache der Krise inszenieren könnte.

Die polnische Ministerpräsidentin hat bei jeder der vergangenen, größeren Demonstrationen die das Bürgerkomitee zur Verteidigung der Demokratie (KOD) initialisiert hat bewusst betont, dass die Demokratie nicht gefährdet sei und jeder Pole und jede Polin von Ihrem Recht zur Demonstration Gebrauch machen könne.

Gerade solche Beschwichtigungsversuche von PIS-Befürworter_Innen könnten den vermeintlich größten Schaden hervorrufen. Polen wird sich damit auseinandersetzen müssen, dass selbst eine theoretische Einschränkung demokratischer Grundideen und Ideale einen realen Charakter aufweist, der jederzeit in ein reales Handeln durch die Staatsgewalt umschwenken kann. Die Gewaltenteilung in einer demokratischen Gesellschaft stellt eine unabdingbare Grundvoraussetzung dar.

Die anderen Europäischen Staaten sollten die Geschehnisse in Polen kritisch und konstruktiv betrachten und sich auch offene Kritik nicht verbieten lassen. Das Rollenbild, dessen sich viele Rhetoriker_Innen aus Regierungskreisen bedienen, wonach Kritik von anderen europäischen Staaten als Angriff auf die polnische Unabhängigkeit zu werten ist, sollte nicht unnötigerweise Vorschub geleistet werden. Nichtsdestotrotz ist es für viele Menschen in Polen ein Trost und eine Stütze, dass sie mit ihren Protesten gegenüber der Regierung nicht alleine stehen. Eine Gradwanderung zwischen konstruktivem Begleiten und Ermahnen gegenüber einem erhobenen Zeigefinger wird dabei allerdings im Interesse der gemeinsamen Vorstellungen und Interessensbekundungen stets zu beachten sein.

Antifaschismus im sächsisch-böhmischen Grenzgebiet: Die Geschichte der Roten Bergsteiger

(Christopher Forst)

Der AK Osteuropa beschäftigt sich nicht nur mit dem was „klassischerweise“ von vielen als Osteuropa gesehen wird: Unser letztes Treffen führte uns nach Dresden und ins Elbsandsteingebirge. Im Vordergrund stand die Geschichte des deutsch-tschechisch-polnischen Dreiländerecks. Keine leichte, aber eine sehr spannende Kost.

Einen prominenten Platz nahm im Rahmen unseres Seminars eine Wanderung „auf den Spuren der Roten Bergsteiger“ durch das Elbsandsteingebirge ein. Im Anschluss an den äußerst interessanten und wärmstens weiterzuempfehlenden Ausflug würden wir deshalb gerne das Thema Rote Bergsteiger auch auf unserem Blog nicht unerwähnt lassen.

Foto: Galyna Spodarets
Foto: Galyna Spodarets

Der Begriff Rote Bergsteiger klingt zunächst einmal martialisch und auch ein wenig gegensätzlich. Rot klingt nach Blut, nach Kampf, nach Widerstand, nach Antifaschismus. Bergsteigen gilt mitunter als bieder, man stellt sich unter Bergsteigern Naturfreunde vor: Freundliche, ruhige Zeitgenossen. Überraschenderweise bestätigen sich beide Vorurteile gleichermaßen, wenn man in die Geschichte der Roten Bergsteiger im Elbsandsteingebirge eintaucht. Aber beginnen wir bei der Frage, um wen es sich dabei überhaupt gehandelt hat.

Heute ist der Landkreis Sächsische Schweiz vor allem für die hier extrem starke NPD sowie jüngst für die Beteiligung seiner Bürger an der Pegida-Bewegung deutschlandweit bekannt. Ein Blick in die Geschichte zeigt, warum diese Entwicklung besonders betrüblich ist.

Deutschland unter Hitler. Schmilka, das letzte Dorf vor der tschechischen Grenze, stellt eine unüberwindbare Hürde dar. Schmilka, das ist ein fast schon verwunschen wirkender Ort, in den man auch heute noch vom (so genannten) Bahnhof aus mit einer Fähre, Baujahr 1927, übersetzen muss. Es gibt eine Mühle und einige ansehnliche kleine Häuser. Zeitzeugen gibt es hier heute kaum noch, und doch hilft eine Wanderung durch das Elbsandsteingebirge zu verstehen, was während der Nazidiktatur in dieser Gegend passiert ist.

Die Vereinigte Kletterabteilung (VKA) oder auch „Naturfreunde Opposition“, heute besser bekannt als Rote Bergsteiger, wurde bereits im Jahre 1930 gegründet, Vorläufer gab es sogar schon zu früheren Zeitpunkten. Den Mitgliedern der Vereinigung waren sowohl der sportliche Gedanke und ihre Naturverbundenheit als auch der politische Widerstand wichtig. Viele von ihnen waren politisch in linken Parteien aktiv, etwa in der KPD. Gleichzeitig handelte es sich um begeisterte Sportler und Naturfreunde, die ihrer großen Leidenschaft nachgehen wollten, dem Bergsteigen.

Foto: Michael Meißner
Foto: Michael Meißner

Als die Nazis die Macht ergriffen hatten, sollte sich das Bergsteigen als eine sehr nützliche Fähigkeit für den Widerstand gegen Hitler erweisen. Die Roten Bergsteiger wurden zu Grenzgängern im sächsisch-böhmischen Grenzgebiet. Für Sie war Schmilka nicht das Ende des Weges. Ihre Organisation war zwischenzeitlich verboten worden, doch in Absprache mit den Parteien, denen Sie nahe standen (u.a. KPD, SPD, SAP), waren die Bergsteiger bereit dazu, sich aktiv antifaschistisch zu engagieren. Sie vermochten es, über die steilen Hänge des Elbsandsteingebirges zu klettern und so politische Pamphlete, Waren und Menschen illegal über die Grenze zu bringen. In der „Höhle am Satanskopf“ wurde zudem eine verbotene Zeitung gedruckt, was zu DDR-Zeiten mit einem Denkmal geehrt wurde. In der DDR gab es auch eine viel beachtete Fernsehserie, die sich mit den Roten Bergsteigern und ihrem Schicksal auseinandersetzte. Dass die Tätigkeit nicht ungefährlich war erklärt sich im Übrigen von selbst – viele Bergsteiger wurden in Konzentrationslagern umgebracht. Widerstand war unter Hitler nicht geduldet.

De facto war wohl nur ein kleiner Teil der Bergsteiger in der Sächsischen Schweiz in den 30er-Jahren antifaschistisch engagiert. Dennoch sollten wir diese mutigen Widerstandskämpfer nicht vergessen. Unsere Wanderung durch das Elbsandsteingebirge, vorbei an steilen Abhängen und alten Grenzsteinen, hat uns deutlich gemacht, wie hoch das Risiko war, das die Bergsteiger auf sich nahmen. Mitunter kam es zu Schüssen an der Grenze, in jedem Falle aber brachte die Tätigkeit als Grenzgänger große Opfer mit sich. Manch einer musste tagelang in den Wäldern der Sächsischen Schweiz ausharren und war nah am Hungertod.

Für uns als ungeübte Wanderer war der Weg von Schmilka durch das Elbsandsteingebirge bereits ohne lauernde Gefahren auf beiden Seiten der Grenze eine Herausforderung. Heute bietet diese Gegend aber auch ein wundervolles Panorama. Einige Eindrücke unseres Ausflugs haben wir fotografisch festgehalten. Die bewegende Führung „auf den Spuren der Roten Bergsteiger“ werden wir ebenso wenig vergessen, wie die eindrucksvolle Natur des Elbsandsteingebirges.

Foto: Michael Meißner
Foto: Michael Meißner

Die Geschichte der mutigen sächsischen und böhmischen Widerstandskämpfer ist auch eine Geschichte der Völkerverständigung und der Solidarität. Als AK Osteuropa der Friedrich-Ebert-Stiftung fühlen wir uns der Völkerverständigung, der Solidarität und dem Antifaschismus in besonderem Maße verpflichtet. Auf den zweiten Blick wundert es deshalb wenig, dass sich der AK Osteuropa diesmal nicht mit Russland, der Ukraine oder dem Balkan, sondern mit der deutsch-tschechisch-polnischen Grenzregion auseinandergesetzt hat. In dieser Region wurde genauso wie andernorts die Geschichte nachhaltig geprägt, nicht zuletzt auch dank der mutigen Bergsteiger, auf deren Spuren wir wandern dürften.

Der Kniefall Willy Brandts als deutsch-polnisches Medienereignis

(Vasco Kretschmann)

Am 18. Dezember 2013 wäre Willy Brandt 100 Jahre alt geworden. Ein zentraler Punkt der gesellschaftlichen Erinnerung an den ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler bleibt der Kniefall am Warschauer Mahnmal für die Opfer des Ghettoaufstandes von 1943 am 7. Dezember 1970. Die Geste ging als eine Bildikone in der Geschichte des 20. Jahrhunderts ein. Jedoch erst mit zeitlichem Abstand wurde Brandts visuelle Geste als ein unumstrittenes und historisch bedeutsames Symbol der Bitte um Vergebung für die deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg wahrgenommen. Somit griff das Ereignis den gesellschaftlichen Debatten über den angemessenen Umgang mit der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik voraus. 1970 löste der Kniefall von Warschau in der Bundesrepublik eine breite gesellschaftliche Debatte über den Umgang mit der deutschen Vergangenheit und den außenpolitischen Kurs gegenüber der Volksrepublik Polen aus.

Gleichzeitig wurde die symbolträchtige Geste zu einem grenzüberschreitenden Medienereignis. Während in der Bundesrepublik Deutschland die Massenmedien das Ereignis mit einer Fülle von Erzählmustern inszenierten, wurde das Ereignis in den staatlichen Medien der Volksrepublik Polen heruntergespielt. Jedoch für die polnische Gesellschaft waren die Geste des deutschen Bundeskanzlers und die folgende Unterzeichnung des Warschauer Vertrages nicht weniger ergreifend. Für das kommunistische Regime allerdings war der Kniefall eines deutschen Kanzlers ausgerechnet am Denkmal für die Opfer des Warschauer Ghettos kein willkommener Akt. Eine Provokation bedeutete das Symbol sowohl im Kontext des polnisch-jüdischen Opferdiskurses wie auch vor dem Hintergrund der offiziellen Tabuisierung des Warschauer Aufstands von 1944 als ein polnischer Selbstbefreiungsversuch vor einer sowjetischen Besetzung Warschaus. In der Presse der Volksrepublik Polen standen auch daher die Fotos der realpolitisch bedeutsamen Vertragsunterzeichnung im Vordergrund.

Vor diesem Hintergrund bildete im Jahr 2000, 30 Jahre nach dem Kniefall und zehn Jahre nach der Transformation Polens in einen demokratischen Staat, die Entscheidung zur Errichtung eines Willy-Brandt-Denkmals in Warschau für die Durchsetzung der symbolträchtigen Geste Brandts in der gesellschaftlichen Erinnerung Polens einen Wendepunkt.

Der Kniefall markierte den Auftakt zu einem selbstkritischen erinnerungspolitischen Wandel in der Bundesrepublik und der Bereitschaft zum Verzicht auf territoriale Ansprüche gegenüber Polen.

Die hier veröffentlichte Seminararbeit von 2010 aus dem Masterstudiengang Public History an der Freien Universität Berlin befasst sich mit dem Kniefall Willy Brandts als ein deutschen-polnischen Medienereignis. Es wird sowohl die unmittelbare mediale Kommunikation des Ereignisses hinsichtlich der Durchschlagskraft symbolpolitischer Gesten wie auch die langfristige Erinnerung an den Kniefall im Wandel der deutsch-polnischen Beziehungen untersucht.

Als Ergänzung zu den Debatten über den Kniefall im deutsch-polnischen Kontext sei ein Disput von 2011 angemerkt. Im deutsch-polnischen Magazin „Dialog“ verteidigte der polnische Publizist Adam Krzemiński die Bedeutung Willy Brandts Ostpolitik gegen eine politisch motivierte Relativierung durch die deutschen Professoren Gerd Langguth, Heinrich Oberreuter und Michael Wolffsohn. Die leicht polemischen Debatten in den Ausgaben Nr. 94 und 95 (2011) kreisen um die Bewertung der „Verdienste“ der einzelnen deutschen Bundeskanzler in der bundesrepublikanischen Polenpolitik.

Eine tiefgründige Auseinandersetzung mit Brandts Geste und die langfristigen Folgen seiner Politik für die deutsch-polnische Zusammenarbeit widmet sich der Sammelband des Centrum Stosunków Międzynarodowych und der Friedrich-Ebert-Stiftung: Europa – Kontinent der Versöhnung? 40 Jahre nach dem Besuch Willy Brandts in Warschau. Warszawa 2012.

Brandts Kniefall als Medienereignis_Vasco Kretschmann.pdf by FES_OstIA