Konfliktlinie Kapital und Arbeit: Die ukrainische Sozialdemokratie (Teil 1)

(Dmitri Stratievski, FU Berlin)

Einst zweitwichtigste Unionsrepublik der UdSSR, heute zweitgrößter Staat Europas. Doch wie bekannt ist die Ukraine? Politisch Interessierte können außer Tschernobyl, Klitschko und Schewtschenko (nicht den Nationaldichter, sondern den Fußballspieler) noch ein paar Spitzenpolitiker nennen. Kaum bekannt ist die lange sozialdemokratische Tradition des Landes, die mehr als 100 Jahre zurückreicht.

Geschichte     
Die heutige Ukraine besteht aus mehreren historisch unterschiedlich gewachsenen Regionen. Bis 1918 gehörten traditionelle Ansiedlungsgebiete der Ukrainer hauptsächlich dem Russischen Reich und Österreich-Ungarns. Während die Zentral- und Ostukraine russisch war, wurde 1772 das westukrainische Galizien im Zuge der Ersten Polnischen Teilung österreichisch. Am Anfang des XX. Jahrhunderts lag die Anzahl der ukrainischen Bevölkerung (im damaligen Sprachgebrauch „Ruthenen“) im Ostgalizien trotz der Assimilierungspolitik Wiens bei 70 Prozent, über 90 Prozent davon waren Bauern. Die Unruhen 1848 und darauf folgende Josephinische Reformen wie Agrarreform und die Aufhebung des Leibeigenschaftsrechtes eröffneten breite Perspektiven für eine vollzogene wirtschaftliche Entwicklung der Provinz und gaben entscheidende Impulse für die Emanzipation der Ukrainer und für neue politische Ideen.

 Erste sozialistische Bauernpartei in Europa: Russisch-Ukrainische Radikale Partei RURP
Die Ukrainer bekamen zum ersten Mal politische Vertretung im Parlament: im Juni 1848 gelangten nach den Wahlen 25 Ukrainer (15 Bauern, 8 Priester und 2 Vertreter der städtischen Intelligenz) in den reformierten Reichsrat. Im Laufe der Zeit kam es zur Spaltung der westukrainischen Nationalbewegung, die zwei Konfliktlinien beinhaltete. Zum Ersten geopolitisch: pro-russisch (Russland als Kernstadt der slawischen Welt) vs. völlig eigenständig, zum Zweiten ideologisch: nationalkonservativ vs. sozialdemokratisch. 1890 entstand in Galizien die erste legale ukrainische Partei und zugleich die erste sozialistische Bauernpartei in Europa – die Russisch-Ukrainische Radikale Partei RURP.

Das Wort „radikal“ trug in diesem Kontext keine extreme Bedeutung, sondern betonte eine klare Ablehnung der national-konservativen Strategie. Das Parteiprogramm von 1895, vor allem vom Parteigründer Schriftsteller Iwan Franko verfasst, hatte folgende Schlüsselforderungen: Meinung-, Versammlung- und Pressefreiheit, weite Autonomie der Ukrainer inkl. Verwaltungsreform sowie kulturelle Entwicklung der Völker. Im Text wurden Begriffe wie Freiheit, Solidarität und Gleichberechtigung verankert. Aus bevölkerungsstrukturellen Gründen in Galizien verstand die Partei das Bauerntum, die tragende ukrainische Schicht, als ihre Zielgruppe. 1897 zogen drei RURP-Vertreter ins Regionalparlament ein. 1911 hatte die Partei fünf Sitze in Wien und drei Sitze im Sejm von Galizien.

Ukrainische Sozialdemokratische Partei USDP
Als Antwort auf zunehmende Industrialisierung der vormals wirtschaftlich unterentwickelten Provinz und Etablierung der ukrainischen Arbeiterschaft wurde 1899 die Ukrainische Sozialdemokratische Partei USDP gegründet. Die Partei galt als ukrainische Sektion der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs, teilte ihr Parteiprogramm und pflegte freundschaftliche Beziehungen zur RURP. Die USDP gab eigene Zeitung „Freiheit“ heraus. 1907 gewann die Partei zwei Sitze im Reichsparlament. Sie war aktives Mitglied der Zweiten Internationale. Beide westukrainische sozialdemokratische Parteien wurden bis zum Zusammenbruch Österreich-Ungarns ausschließlich aus Privatspenden finanziert.

In der ukrainischen sozialdemokratischen Bewegung im Russischen Reich kam es zur Bildung zweier konkurrierenden Strömungen: russlandstreue Sozialdemokraten (Fraktion der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei RSDRP) und nationalbewusste Sozialdemokraten (vereinigt in der 1900 gegründeten Revolutionären Ukrainischen Partei RUP). Eine extreme Parteiprogrammatik der RUP, ihre Hochstilisierung des Ukrainetum und Unabhängigkeitsappelle an der Grenze zur Nationalismus verursachen eine weitere Spaltung: 1905 wurden die Ukrainische Sozialdemokratische Union USDS, auch Spilka (Union) genannt (Minderheit, zentristisch, pro-russisch) und Ukrainische Sozialdemokratische Arbeiterpartei USDRP (Mehrheit, links, Unabhängigkeitsstrebungen). 1906 war jedoch die gemäßigte Spilka mit ihrer Parole „Demokratie heute, Autonomie morgen!“ eine führende politische Kraft im Süden der Ukraine und zählte bis zu 7.000 Mitglieder. Bei den zweiten Duma-Wahlen gewann sie 14 Mandate.

Nach den Februar- und Oktoberrevolutionen 1917 in Russland betonten Wladimir Winnitschenko und Simon Petljura, die Anführer der kurzlebigen ukrainischen souveränen Staaten, ihr Bekenntnis zum rechten Flügel der Sozialdemokratie. Seine Handlungen im damaligen politischen Kontext trugen aber nationalistische und konservative Züge. Nach dem Fall der Ukrainischen Volksrepublik und Sieg der Bolschewiki im Bürgerkrieg wurden alle nicht kommunistische Parteien verboten. Die ukrainische sozialdemokratische Bewegung funktionierte weiter nur im polnisch kontrollieren westukrainischen Raum, in Galizien und Wohlhynien. Die Neugründung Ukrainische Sozial-Radikale Partei USRP, in der sich Sozialdemokraten, Sozialisten und Sozialrevolutionären zusammenschlossen, war kaum bedeutend. In der westukrainischen Gesellschaft gewannen die Nationalisten um die Organisation der Ukrainischen Nationalisten OUN die Oberhand.

 

Original: Vorwärts

Der Umgang mit dem Erbe von Repression und Diktatur

Michael Meißner:

Der Umgang mit dem Erbe von Repression und Diktatur. Diskussion mit Marianne Birthler und Irina Scherbakova.

Öffentlicher Vortrag

Termin

25.01.2012 / 18:00 Uhr

Veranstalter

Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur

Lehrstuhl Geschichte Osteuropas der Humboldt-Universität zu Berlin

Kurzbeschreibung

Marianne Birthler und Irina Scherbakova diskutieren über den Umgang mit dem schwierigen Erbe der kommunistischen Diktaturen in Osteuropa. Auf welche Weise versuchen unterschiedliche Gesellschaften, die Vergangenheit aufzuarbeiten? Wie unterscheiden sich deutsche und russische Aufarbeitungsdiskurse und welche spezifischen Gründe gibt es dafür?

Die Diskussion findet im Rahmen der Reihe »Stalinistischer Terror in der Sowjetunion und in Osteuropa: Neue Forschungen zu Tätern – Opfern – Folgen« statt.

 

Veranstaltungsanschrift

Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur

Kronenstraße 5

10117 Berlin

Kontakt

 

Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur

Kronenstraße 5

10117 Berlin

Tel.: 030-319895-0

Fax.: 030-319895-210

 

www.stiftung-aufarbeitung.de

 

Programm des Vereins KONTAKTE-KONTAKTY zum 70. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion

22. Juni.

Eröffnungsveranstaltung zur Ausstellung ›RUSSENLAGER‹ UND ZWANGSARBEIT –
Bilder und Erinnerungen sowjetischer Kriegsgefangener.

19 Uhr Humboldt-Universität zu Berlin, Senatssaal.
Grußwort.
Günter Saathoff, Vorstand der Stiftung EVZ.
Einführungsrede.
Prof. Dr. Michael Wildt, Historiker.
Ansprache.
eines ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen.
Georg Schramm, Kabarettist.

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24. Juni.

Gespräch mit ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen.

Zwei ehemalige sowjetische Kriegsgefangene aus Russland, die extra nach Berlin zu Gast kommen, berichten über ihre Erlebnisse an der Front und in deutscher Kriegsgefangenschaft.

19 Uhr, Rathaus Schöneberg, John-F.-Kennedy-Saal.

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30. Juni.

›Wie schwer, sich daran zu erinnern‹.

Dokumentarfilm
und Diskussion über die Nichtanerkennung von kriegsgefangenen Zwangsarbeitern als NS-Opfer.
19 Uhr

Feurigstraße 68
D-10827 Berlin