Auf den Spuren der Sudenten: Zappenland

von Michael Meißner 

Ausgehend von Jetřichovice (deutsch: Dittersbach) führte uns unsere Entdeckungstour auf den Spuren der Sudenten tief in die Felsenwelt, welche sich rund um den Ort erstreckt.

Bereits am Ausgang des Dorfes fasziniert uns ein imposantes Gebäude, welches den Eindruck eines ehemaligen herrschaftlichen Ansitzes vermittelt. Ein Schild verschafft jedoch schnell Klarheit: Es handelt sich um ein ehemaliges Kinder- und Erholungsheim, welches in den 1920er Jahren durch die Deutsche Sozialdemokratische Arbeiterpartei begründet wurde. Es diente der Erholung von Kindern aus Industriegebieten, so dass auch sie in den Genuss von Natur und frischer Luft kamen. Diesen Zweck erfüllt es auch noch bis zum Jahr 2005, danach verkaufte der tschechische Staat das Objekt an einen privaten Investor. Seitdem ist es leider zunehmend dem Verfall preisgegeben.

Auffällig sind insbesondere zwei Objekte in der Dittersbacher Felsenwelt, zum einen der Marienfels (Mariina Skála), mit einer Schutzhütte die wie ein Adlernest hoch oben auf einen Felsen platziert ist und der Rudolfstein (Rudolfův kámen), mit einer nicht weniger imposanten Hüttenkonstruktion, jedoch etwas außerhalb der Sichtachsen.

Aufstieg zum Rudolfstein

Der Rudolfstein

Marienfels

Beide wurden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach Mitgliedern des böhmischen Adelsgeschlechts Kinsky benannt, deren Wurzeln bis in das 13. Jahrhundert zurück reichen. Nach der Auflösung des Habsburgerreiches und der Gründung der 1. Tschechischen Republik wurden viele ihrer Besitztümer enteignet. Der übrige Teil ging nach dem 2. Weltkrieg im Zuge der Verstaatlichung auf der Grundlage der Beneš-Dekrete verloren.

Von beiden Felsen bietet sich eine umfassende Panoramaaussicht, die weit über das Zappenland hinaus reicht. Aber es sind vielfach auch die kleineren, weniger spektakulären Details auf dem Wege, die unsere Neugier hervorriefen.

So befindet sich beispielsweise am Weg zwischen Marienfels und Rudolfstein ein sehr großer Felsüberhang, namens „Balzers Lager“.

Balzers Lager

Ob der Name wirklich daher stammt, dass es sich hierbei um einen regelmäßigen Treff- und Rastpunkt von Jägern gehandelt hat, lässt sich heute nicht mehr prüfen. Dennoch erscheint diese Herleitung naheliegender als daraus Rückschlüsse auf einen Biwak schwedischer Truppen während des Dreißigjährigen Krieges zu führen. Für die erste Deutung spricht eine alte Inschrift an der Felsenwand:

„Anno 1632 am Tage S. Johannis Seind dagelegen G.M.V. – M.V. – J.F.G. – A.N.“

Eine weitere Felsinschrift wurde von der 18. Versammlung deutscher Forst- und Landwirte am 15. September 1856 in den Fels gemeißelt: 

Wer ist Meister? Der was ersann. Wer ist Gesell? Der was kann. Wer ist Lehrbursch? Jedermann.“  

Nicht weit davon entfernt, tief im Wald und fernab anderer Dörfer, befindet sich unser eigentliches Etappenziel – die Balzhütten (Na Tokáni).

Diese kleine Siedlung, bestehend aus wenigen Blockhütten, hat ihren Ursprung in Jagdgattern, die im Auftrage der Fürsten von Kinsky unterhalten wurden. In ihnen wurde Wild in einem umzäunten Areal gehalten, um es zu gegebenem Anlass bequem jagen zu können. Ein kleiner, sechs Meter über dem Boden in den Felsen gehauener Raum diente hierbei als sicherer Unterstand für die Forstknechte. Später wurde dieser durch ein einfaches Jagdhaus abgelöst. Im Laufe der Jahrhunderte kamen weitere Gebäude hinzu, welche den Grundstock für die heutige Siedlung bildeten, die auch durch ihre landschaftliche CShönheit zunehmend Gäste anzog.

Na Tokani

Laut dem Schriftsteller Albert Emil Brachvogel soll auch Friedemann Bach, der Sohn des weltbekannten Komponisten Sebastian Bach, als „Aussteiger“ die Umgebung der Balzhütten besucht und hier einem „ungebundenen Leben“ geführt haben

Ab 1904 erfolgte eine umfassende Renovierung und Erweiterung der Siedlung. In den Jahren bis zum Ausbruch des 2. Weltkrieges erfreuten sich die Balzhütten zunehmender Popularität. Die Anzahl der Ausflügler und Besucher stieg stetig an.

Na Tokani

Der Besuch von Lord Walter Runciman im Sommer 1938 hatte weniger touristischen Charakter, sondern resultierte aus der Zuspitzung des Konfliktes rund um die sudetendeutschen Gebiete in der Tschechoslowakei. Runciman war im Auftrag der britischen Regierung unter Chamberlain in der Tschechoslowakei unterwegs und sollte in der „Sudetenkrise“ vermitteln. Im Zuge dessen traf er sich bei den Balzhütten mit dem Fürsten Ulrich Ferdinand Kinsky. 

Welche konkreten Auswirkungen dieses Treffen hatte, muss offenbleiben. Mit dem Münchner Abkommen vom September des gleichen Jahres wurde jedoch auch dieser Teil der Sudetengebiete durch das nationalsozialistische Deutschland annektiert. 

Mit dem Ende des zweiten Weltkriegs fand die touristische Nutzung der Balzhütten ein jähes Ende. Die einheimische Bevölkerung wurde vertrieben und bis zum Jahr 1968 dienten die Gebäude als Unterkünfte für die tschechoslowakischen Grenztruppen. Im Anschluss daran, wurde das Areal als Betriebsferienheim genutzt, seit 1990 befinden sich die verschiedenen Gebäude in privater Hand.  

Mittlerweile hat auch die Bedeutung als touristisches Ziel wieder deutlich zugenommen. Und wer hier nicht nur in einer Schankwirtschaft einkehrt, sondern sich auch die Zeit nimmt, die Umgebung zu erkunden, wird vielfach Zeugnisse der Geschichte entdecken.

Rückweg nach Vysoka Lipa

Alle Fotos dieses Beitrags: Michael Meißner.

Call for Papers (and Presentations) für Konferenz „Self-positioning of Eastern European Societies in Global Relations“

Bis zum 25. August könnt ihr eure Paper für die Konferenz Self-positioning of Eastern European Societies in Global Relations
– Conceptions of Space and Self-presentations in School Textbooks, die am 6. und 7. November 2017 in Leipzig stattfindet einreichen.

 

Den Link zur Ausschreibung findet ihr hier: https://www.joe-list.de/2017/08/cfp-self-positioning-of-eastern-european-societies-in-global-relations-6-7-11-17-leipzig/

Osteuropaforschung in Deutschland vor und nach „der Ukraine“ – Treffen des AK Osteuropa am 28. März in Bremen

(Elisabeth Schwarz)

„Und dann musste die Ehefrau, kurz bevor die 2 Tage Besuchszeit um waren, die kleinen verschweißten Manuskripte verschlucken und durch die Kontrolle kommen.“

So erklärte Maria Klassen, Archivarin bei der Forschungsstelle Osteuropa, wie die Verbreitung von Samisdaten auch aus dem Gefängnis heraus noch funktionieren konnte.

„Samisdat“, übersetzt „Selbstverlag“ das sind Schrift- und Kunststücke von Dissidenten aus der Sowejtzeit.

Samisdat - Röntgenaufnahme mit Tonspur
Samisdat – Röntgenaufnahme mit Tonspur (Foto: Tobias Endrich)
Verschluckte Nachricht aus Lager (Tobias Endrich)
Verschluckte Nachricht aus Lager (Foto: Tobias Endrich)

Davon und von anderen Periodika besitzt die Forschungsstelle Osteuropa an der Uni Bremen eine ganze Menge, wie wir, gleich zu Beginn unseres Arbeitskreistreffens bei einer Führung durch das Archiv der Forschungsstelle erfahren und selbst begutachten durften.

Nach der Archivführung am Freitagnachmittag folgte am Samstag die Vorstellung weiterer Projekte der Forschungsstelle Osteuropa durch Kateryna Bosko, die einerseits als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin an der Forschungsstelle tätig ist und andererseits selbst Promotions-Stipendiatin der Friedrich-Ebert-Stiftung war und langjähriges Mitglied des Arbeitskreises Osteuropa ist.

Der Fokus lag dabei auf zwei Dingen: Zum Einen berichtete Kateryna von den Forschungen und Ergebnissen für ihre Dissertation zum Thema „Negative Framing in hybrid regimes: the case study of gas politics in Ukraine“ – ein hochspannendes Thema, zu dem auch gleich kontroverse Diskussion insbesondere vor dem Hintergrund der zurückliegenden Ukraine-Reise des AK entflammte.

Zum Anderen ging es um die Länder-Analysen der Forschungsstelle und dort vor allem um die Ukraine-Analysen, denn Kateryna ist für dieses Land die Redakteurin. So wurden nicht nur inhaltliche Details ausgetauscht, sondern auch Erfahrungen mit redaktionellen Themen – die sicherlich auch für das Sammelband-Projekt des AK konstruktiv genutzt werden können.

Die abschließende Themen-Einheit wurde zu Vorstellung und Austausch von Forschungsvorhaben der AK-Mitglieder genutzt:

Zunächst präsentierte Evgeniya Bakalova, Promotionsstipendiatin der FES, ihre ersten Ergebnisse zum Promotionsthema „Russia´s Normative Alternative? Political and Civil Rights Norms`  Internalisation and Contestation Dynamics“. Den grundlegenden Aufbau bilden dabei qualitative Fallstudien zu NGOs, Presse/Demonstrationsfreiheit und zur Norm der internationalen Wahlbeobachtung. Dabei wird untersucht, in welchem Verhältnis Normanerkennung und Normanwendung stehen. Die Fallstudie zur Norm der internationalen Wahlbeobachtung konnte bereits überzeugende Ergebnisse aufweisen; es zeigten sich teilweise sehr große Diskrepanzen zwischen Normanerkennung und –umsetzung, die auch in den politischen Kontext eingeordnet werden konnten.

Anschließend wurde an Galyna Spodarets, ebenfalls Promotionsstipendiatin der FES übergeben, die zum Thema „Symbolische Bedeutungen des Flusses Dnjepr“ referierte und so auch die Nicht-Politologen auf einen Ausflug in das Feld ihrer Dissertationsarbeit mit Thema „Der Fluss als semantisches Raumparadigma in der ukrainischen Kultur“ mitnehmen konnte. Nach einem kurzen Überblick über allgemeine und geographische Fakten wurde dargelegt, welch große und enorm vielschichtige Bedeutung der Dnjepr hat: sei es als (Landes-)Grenze, als Handelsweg, als mythisches Objekt, als Sehnsuchtsquelle, zum Beispiel in der Literatur, oder wirtschaftlich – als beispielsweise nutzbar für Stauseen.

Galyna Spodarets präsentiert ihr Forschungsvorhaben (Foto: Tobias Endrich)
Galyna Spodarets präsentiert ihr Forschungsvorhaben (Foto: Tobias Endrich)

Den Abschluss bildete Kristin Eichhorn, FES-Stipendiatin der Grundförderung, die die Zwischenergebnisse ihrer Masterarbeit mit dem Titel „Conditions of Re-autocratization“ vorstellte. Sie wählt einen quantitativen Ansatz und wertet insgesamt 2743 Länderjahre in Studien aus, um nach klar festgelegten Kriterien Re-Autokratisierungen festzustellen, diese hinsichtlich bestimmter Kriterien auszuwerten und so Faktoren auszumachen, die eine Re-Autokratisierung (nach einer demokratischen Phase von mind. 4 Jahren) in einem Staat begünstigen. Dieses relativ unerforschte Gebiet konnte auch nach einem langen Tag nochmals großes Nachfrage- und Diskussionspotential entflammen, sodass aus den für die 3 Vorträge eingeplanten eineinhalb Stunden fast drei Stunden geworden waren.

Insgesamt lässt sich sagen, dass es ein inhaltlich äußerst interessantes und produktives Treffen war.

Nochmals bedanken möchten wir uns bei der Forschungsstelle Osteuropa.

Die Länderanalysen sind hier zu finden – kostenloses Abonnieren möglich.

Gespräch mit Dr. Sereda, Center for Urban History and East Central Europe

Gespräch mit Dr. Viktoria Sereda (Center for Urban History and East Central Europe), am 30. Mai 2014 in Lwiw

(Galyna Spodarets)

Am 30. Mai 2014 fand in den Räumlichkeiten der Katholischen Universität Lwiw das Treffen der AK-Osteuropa Delegation mit Dr. Viktoria Sereda zum Thema „Die Ukraine der Regionen“ statt. In einer spannenden Präsentation wurden den osteuropainteressierten StipendiatInnen der FES die Ergebnisse eines Projektes zur transkulturellen und interdisziplinären Konzeptualisierung der Ukraine vorgestellt. Die Hauptidee dieses Projekts war, auf die ukrainischen Regionen und dessen Bewohner nicht aus der stereotypischen Unterteilung zu schauen, sondern die quantitativen und qualitativen Daten aus jedem Verwaltungsbezirk (Ukrainisch „Oblast“) des Landes zu sammeln und zu vergleichen. Somit wurden uns die regionalen Gemeinsamkeiten und Differenzen zu den Fragen der ukrainischen Identität, des Gedächtnisses und der Religion im soziogeographischen Kontext präsentiert. Diese soziologische Untersuchung wurde 2013 anhand einer vergleichenden Representativbefragung von ca. 6000 Probanden in allen Regionen der Ukraine – auch in „ethnisch“ relativ heterogenen Regionen wie Tscherniwzi, Uschgorod und auf der Krim – durchgeführt. Welche Elemente der Kultur spielen für die Selbstidentifikation der Bewohner dieser Gebiete eine Rolle? Wird die historische Vergangenheit in die Identität der Bewöhner des Landes bewusst mitaufgenommen? Frau Sereda stellte uns die ersten Ergebnisse ihrer Untersuchung vor.

Um die stereotypisierte Ost-West-Kombination zu vermeiden, wurde eine Unterteilung anhand der zehn wichtigsten Regionen der Ukraine vorgenommen, die da sind: Galizien, Nordwesten, Südwesten, Kiew, Zentrum, Nordosten, Osten, Süden, Industriegebiet Donbass und die Halbinsel Krim (siehe Bild 1).

Ethnische Zusammensetzung der zehn untersuchten Regionen
Ethnische Zusammensetzung der zehn untersuchten Regionen

Welcher Nationalität fühlt man sich in diesen Regionen zugehörig? Probanden wurde eine Skala von 1 (nicht wichtig) bis 5 (sehr wichtig) zur Bewertung gegeben. Aus den erhobenen Daten wurde ersichtlich, dass die russische Nationalität bzw. die russische Identität nur auf der Krim dominiert. In allen anderen Regionen fühlen sich Menschen mehrheitlich der ukrainischen Identität zugehörig. Ebenfalls wurde bewiesen, dass die ukrainische Identität auch für ethnische Russen von äußerster Wichtigkeit ist.

Um die regionalen Unterschiede zum Thema Identität heraus zu arbeiten, wurden die Probanden gebeten, ihre Identität aus 15 Möglichkeiten auszuwählen (ukrainisch, russisch, slawisch, europäisch, regional, beruflich u.a.). So ist die nationale ukrainische Identität im Westen, Norden und Zentrum des Landes mehr ausgeprägt, als die regionale oder lokale. Dagegen ist im Süden, Osten und im Donbass eine gegenläufige Tendenz der Prävalierung der regionalen Identität festzustellen. Die europäische Identität ist nur im Westen und Norden des Landes etwas stärker ausgeprägt als die slawische, im Gegenteil zum Zentrum, Süden und Osten, wo die Zahlen genau die umgekehrte Situation kennzeichnen. Bemerkenswert ist dabei, dass in allen Regionen die ukrainische Identität über dem arithmetischen Mittelwert liegt, während die russische sich nur in Donbass und im Süden (da die Krim mit einberechnet wurde) der Mittelwertgrenze nähert (siehe Bild 2).

Regionale Unterschiede der territorialen Identitäten
Regionale Unterschiede der territorialen Identitäten

Das nächste Bild veranschaulicht die Unterteilung der ukrainischen Identität in den unterschiedlichen Verwaltungsbezirken des Landes. Anhand der erhobenen Daten wird deutlich, dass die stereotype Ost-West-Unterteilung nicht der Realität entspricht. Die Karte ist „bunt“ gemischt und es sind innerhalb der Regionen große Unterschiede festzustellen. In der Donbass Region sind beispielsweise Unterschiede zwischen Donezk und Luhansk ersichtlich. Auch der westliche Teil des Landes ist nicht so einheitlich, wie die Forscher das erwartet haben (vergleiche: Tscherniwzi, Odessa, Donezk, Bild 3).

Ausprägung der ukrainischen Identität in den unterschiedlichen Verwaltungsbezirken
Ausprägung der ukrainischen Identität in den unterschiedlichen Verwaltungsbezirken

Zu welchem Grad denken Menschen, dass die Ukraine und Russland die gleiche Kultur haben? Es wird deutlich, dass die kulturelle Einheit unter den Bewohnern deutlich anerkannter ist, als die staatliche Einheit. Sehr gut wird diese Entwicklung am Beispiel von Galizien illustriert. Zwar werden die kulturellen Gemeinsamkeiten weithin akzeptiert, dagegen findet hier die Behauptung Russland und die Ukraine sind ein Staat keinerlei Unterstützung. Auf der Krim und in der Donbass Region sieht die Stimmungslage dazu anders aus. Die Vorstellung, dass Russland und die Ukraine ein staatliches Gebilde darstellen, findet bei mehr Probanden Unterstützung, als die Behauptung, dass Ukrainer und Russen Vertreter der gleichen Kultur seien (Bild 4).

Haben die Ukraine und Russland die gleiche Kultur/den gleichen Staat?
Haben die Ukraine und Russland die gleiche Kultur/den gleichen Staat?

Da die Ukraine ein bilinguales Land ist, wurde in der Studie auch die Frage nach den sprachlichen Vorlieben berücksichtigt. Sollte Russisch zweite Amtssprache werden? Während der Südosten Bilingualität unterstützen würde und die Akzeptanz dieser Vorstellung auf der Krim, in Odessa, Charkiw, Luhansk und Donezk über dem Durchschnitt liegt, würden Bewohner von Galizien diese Initiative nicht unterstützen. Aber auch in der Westukraine sind Differenzen unverkennbar: Transkarpatien, Wolhynien, Tscherniwzi würden in der Sprachenfrage anders handeln als Lwiw, Iwano-Frankiwsk und Ternopil (Bild 5).

Regionale Zustimmung zur Zweisprachigkeit
Regionale Zustimmung zur Zweisprachigkeit

In der Frage, ob ukrainische Staatsbürger Russisch sprechen sollen, sehen die Forscher klare Unterschiede. Überwiegend zustimmend zeigen sich die Gebiete, die heute im öffentlichen prorussischen Propagandadiskurs als „Neurussland“ bezeichnet werden, mit Ausnahme von Dnipropetrowsk. Die letzten politischen Entwicklungen in der Ukraine versinnbildlichen, wie die Sprachvielfalt zur Spaltung der Ukraine missbraucht werden kann.

Um die charakteristischen Merkmale des nationalen kollektiven Gedächtnisses im regionalen Vergleich aufzuzeigen, wurden drei Elemente untersucht: Feiertage, Personen und Ereignisse.

Feiertage

Fünf ukrainische Feiertage (Tag der Vereinigung, Geburtstag des Nationaldichters Taras Schevchenko, Tag der Unabhängigkeit, Tag der Verfassung und Holodomor-Gedenktag) und fünf sowjetische (23. Februar, 8. März, Tag der Arbeit, 9. Mai und Oktoberrevolution 1917) wurden betrachtet. Aus fünf ukrainischen Feiertagen wurde nur einer (Tag der Unabhängigkeit) weitestgehend akzeptiert, dagegen wurden die sowjetischen Feiertage (außer der Oktoberrevolution) in das ukrainische kollektive Gedächtnis aufgenommen und werden im ganzen Lande kontinuierlich gefeiert (nur drei Gebiete nehmen sie nicht an). Diese Entwicklung zeigt, dass die ukrainischen Feiertage im ukrainischen Gedächtnis weniger institutionalisiert wurden, als die sowjetischen.

Personen

Hier wurde die Methode der offenen Frage angewendet. Probanden sollten sich selbständig Helden und Antihelden überlegen und nennen. Drei Personen haben sich bei dieser Umfrage besonders herauskristallisiert, die in allen regionalen Ranglisten vorkommen: Bohdan Chmelnyzkyj, Taras Schewtschenko und Mychajlo Hruschewskyj. Ausnahmen bilden hier nur Donezk, Luhansk, Saporischschja und die Halbinsel Krim, wo der Name Hruschewskyj nicht erscheint.

Als die meist umstrittenen Figuren der ukrainischen Geschichte haben sich Bandera und Mazepa rausgestellt.

Eine eindeutig negative Bedeutung wurde in allen Regionen Stalin zugeordnet. An Hitler wurde sich nur in fünf Verwaltungsbezirken negativ erinnert. Gorbatschow wurde in drei Verwaltungsbezirken Galiziens und zwei Verwaltungsbezirken Wolhyniens zu positiven und in anderen 20 Verwaltungsbezirken zu den negativen Personen gezählt. Eine sehr klare regionale Differenzierung einer Person, die für den Zerfall der Sowjetunion verantwortlich gemacht wurde. Juschtschenko bekam fast in 18 Regionen der Ukraine eine negative Bewertung und Janukowytsch in 13.

Ereignisse

Bei historischen Ereignissen haben sich die Probanden auf das 20. Jahrhundert fokussiert. Zu den zwei Ereignissen, die in der ganzen Ukraine gleich hohe Relevanz besitzen, zählen der Sieg im Zweiten Weltkrieg und die Unabhängigkeitserklärung von 1991.

Als weitere positive Ereignisse nannten die Bewohner des Westens und des Zentrums die Orange Revolution und das Kosakentum, die Bewohner des Südens und Donbass den Perejaslaver Vertrag mit Russland, den Hmelnyckyj 1654 unterschrieben hat, die Vertreter des Nordens und Zentrums die Kiever Rus. Eine interessante Beobachtung ist die Tatsache, dass in fast allen Verwaltungsbezirken die ukrainische Unabhängigkeit (sprich Ende der Sowjetzeit, Abspaltung vom russischen Einflussgebiet) als ein positives Ereignis wahrgenommen wurde, aber zugleich wurden andere Ereignisse, wie die Gründung und der Zerfall der Sowjetunion als positive markiert.

Die Orange Revolution 2004 wurde in 13 Verwaltungsbezirken (Osten, Süden und Donbass) als negativ eingestuft. In sechs zentralen Gebieten konnten gleichzeitig sowohl positive als auch negative Konnotationen konstatiert werden. Die gleiche Ambivalenz besitzt auch die Auswertung der Präsidentschaft von Janukowytsch.

Zu den eindeutig negativen Ereignissen, die fast in allen Umfragen vorgekommen sind, zählen die Hungernot 1932-33, der Zweite Weltkrieg und die Tschornobyl-Katastrophe. In sieben Verwaltungsbezirken (Galizien, Wolhynien und Zentrum) wurde die Erfahrung ein Teil der Sowjetunion zu sein als negativ eingeordnet. Seltener Erwähnung finden in dieser Umfrage solche Ereignisse wie die Oktoberrevolution 1917, Stalins Repressionen und der Krieg in Afghanistan.

Bei der Auswertung dieser Daten ist zu beachten, dass der ukrainische Raum ein heterogener Mischraum ist. Unterschiedliche Antworten auf die gleichen Fragen zeugen davon, dass die ukrainische Identität in bzw. aus einer äußerst vielfältigen und komplexen Mischung besteht: aus kosakischen Mythen, sowjetischen Narrativen, Kontakten zwischen Ost und West, unterschiedlichen Erinnerungskulturen und Geschichtsvorstellungen; aus diversen multiethnischen, sprachlichen und religiösen Traditionen. Der ukrainische Raum bedient sich von diesen Mischungen, was dazu führt, dass aus einem Mischraum sich schwerer eine Identität ableiten lässt als aus einem homogen strukturierten Raum. Frau Sereda betonte aber, dass dies eine positive Entwicklung sei, wenn den Einzelnen bewusst wird: „Wir sind unterschiedlich, aber wir sind eins“.

Mit dieser Analyse werden bestimmte Tendenzen für die fünf wichtigsten Regionen (den Westen, die Zentralukraine, die Ostukraine, die Halbinsel Krim und den Süden) ersichtlich. Es lassen sich aber keine klaren Grenzen zwischen Ost und West, Nord und Süd weder im politischen, noch im kulturellen Kontext ziehen. Die Präsidentschaftswahlen vom 25. Mai 2014 haben gezeigt, dass die Ukrainer nach dem Maidan, der Krim-Krise und der präkeren Entwicklung im Donbass mehr denn je vereint sind.

Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen nach Verwaltungsbezirken
Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen nach Verwaltungsbezirken

Da die in der Präsentation skizzierten Daten noch vor dem Maidan erhoben wurden, wäre es interessant herauszufinden, welche Verschiebungen in der Identität der Ukrainer nach dem Maidan feszustellen sind. Aus diesem Grunde wurden weitere Interviews durchgeführt. Die vollständige Monographie mit den Auswertungen der Umfragen auf dem Maidan, in Kiew, in Lwiw und Charkiw zur Identität, europäischen Perspektiven und aktualisierten mentalen Vorstellungen wird im März 2015 veröffentlicht.

[Nach einer ausführlichen Präsentation bot sich die Möglichkeit an, der Referentin Fragen zu den aktuellen Ereignissen zu stellen. Aktiv wurden Meinungen zu folgenden Themen ausgetauscht: die politische Zukunft der Ukraine, die antiukrainische Propaganda und der Nationalismus als deren Hauptlabel, die Präsidentschaftswahlen und die niedrigen Ergebnisse der nationalistischen Parteien, stereotypisierte vereinfachte Vorstellungen und Notwendigkeit der Verbreitung fundierter Informationen zur Situation im Land. Es wurde über die Notwendigkeit der Öffnung der ukrainischen Geschichte gesprochen, damit ein kollektives nationales Gedächtnis eine Chance auf eine adequate objektive Ralativierung erfahren kann.

Da Frau Sereda vor einem Jahr Interwievs in Simferopol, Jewpatorija und anderen Städten und Dörfern der Krim durchführt hat, fragten wir nach ihrer Einschätzung der jüngsten Entwicklungen auf der Halbinsel. Laut Sereda war noch vor einem Jahr nicht zu erkennen, dass die Bewohner der Krim sich eine Abspaltung von der Ukraine wünschen. „Wenn die bewaffneten grünen Männchen nicht da wären, würden die Ergebnisse des ohnehin rechtswidrigen Referendums anders ausschauen“.

Heute kommen zahlreiche Flüchtlinge aus der Krim nach Lwiw. Viele davon sind Krimtataren, die vor Verboten, Verfolgungen und Verhaftungen flüchten. Sie lassen alles zurück und bauen mit Hilfe der ukrainischen Zivillgesellschaft ihr Leben aufs Neue auf. Das einzig positive daran ist, dass es in Lwiw ein krimtatarisches Restaurant aufgemacht hat, das wir nach dem Treffen neben Ploscha Rynok besuchten. So lecker hat uns das Essen bei der Flüchtlingsfamilie Jusbaschev geschmeckt. So bitter ist der Nachgeschmack der Geschichte.

Krimtatarische Flüchtlingsfamilie Jusbaschev aus Jewpatorija, die am 7. Mai 2014 ein Restaurant in Lwiw aufgemacht hat
Krimtatarische Flüchtlingsfamilie Jusbaschev aus Jewpatorija, die am 7. Mai 2014 ein Restaurant in Lwiw aufgemacht hat

„Alles neu macht der Maidan“ – Call for Papers!

 

„Alles neu macht der Maidan?“

Interdisziplinäre Perspektiven auf eine Ukraine im Umbruch

Call for contributions for an edited volume/Beiträge zu einem wissenschaftlichen Sammelband

 

Die Ukraine ist mit den Geschehnissen auf dem Maidan und der Krim in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Mit der brisanten Entwicklung in der Ostukraine und der drohenden machtpolitischen Ost-West-Konfrontation in Europa wuchs ein Bedarf an Analysen zur Lage in der Ukraine.

Die bisherigen Studien haben oft einen exklusiven empirischen oder rein theoretischen Fokus. Viele aktuelle Analysen sind zudem populärwissenschaftlicher Natur und kommentieren die aktuellen Ereignisse, ohne diese in einen breiteren Kontext zu stellen. Normativ-geprägte Ansätze (wie diejenige der Transformationsforschung) hingegen konzentrieren sich auf ausgewählte Aspekte und können die Umbrüche und ihre Komplexität nicht erschöpfend analysieren. Die Ukraine selbst und ihre (außen-)politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und sonstigen Probleme rücken gegenüber einer starken Betonung der geo- und außenpolitischen Aspekte oft in den Hintergrund der Analysen. Dabei bleibt das Land mit einer Bevölkerung von knapp 45 Millionen Menschen und dem neben Russland flächenmäßig größtem Territorium des europäischen Kontinents für die westliche Öffentlichkeit, Politik, und sogar Wissenschaft weitgehend unbekannt. Der jüngste Konflikt und die Ereignisse in und um die Ukraine zeigten die Gefahren dieser Vernachlässigung und gleichzeitig die Notwendigkeit umfassender Studien auf, die die Krise(n) der Ukraine einer vielseitigen Betrachtungsweise öffnen und die Ukraine selbst in den Mittelpunkt stellen.

Das Ziel des Sammelbandes ist, analytische Lücken mit Hilfe eines interdisziplinären Ansatzes zu identifizieren und ein holistisches Bild auf die vielfältigen Krisen einer Ukraine im Umbruch zu schaffen. Dank einer interdisziplinären Herangehensweise und einer theoretischen Vielfalt (z. B. Transformations- und Erinnerungsforschung, Oral History und Kontextanalyse, etc.) wird dieser Sammelband einen Beitrag zum Verständnis der gesellschaftspolitischen Zusammenhänge in der Ukraine in ihrer Rückwirkung auf die aktuellen Krisenprozesse leisten.

Inhaltliche Konzeption

Willkommen sind Beiträge aus allen Fachrichtungen, die die Krise(n) der Ukraine aus ihrer disziplinspezifischen Perspektive heraus identifizieren und betrachten. Aus transitionstheoretischer Sicht wird die Ukraine zuletzt als im Graubereich verharrend, die politische Entwicklung des letzten Jahrzehnts als Stillstand beschrieben (vgl. zuletzt Geissbühler, in: ders.(Hg.), Kiew ‑ Revolution 3.0). Im Fokus der Beiträge steht auch deswegen die Frage, ob es sich im Zusammenhang mit den/der identifizierten Krise(n) und aktuellen Umbrüchen potentiell von einer Zäsur oder einer Sackgasse sprechen lässt, und welche Möglichkeiten sich aus der(n) Krise(n) ergeben. Die jeweiligen Krisen (die aktuell und davor entstandenen), die den Analysegegenstand der einzelnen Beiträgen bilden, sind von den AutorInnen selbst zu identifizieren und im Bezug auf die Fragestellung zu untersuchen. Sowohl empirische, als auch theoretische Analysen sind von Interesse. Die individuelle Definition des Analysegegenstandes („Krise“) führt zu einer nicht notwendig auf die aktuellen Umbrüche („Ukraine-Krise“, „Krim-Krise“, „Krieg im Donbass“) beschränkten Analyse, die auch Wechselwirkungen der identifizierten, auch vor den Ereignissen 2014 bestehenden oder entstandenen Krisen untersuchen kann. Durch den Vergleich von unterschiedlichen (auch historischen) Krisenräumen soll ein Dialog der Perspektiven entstehen, während die primär auf den ukrainischen Raum bezogenen Themen durch eine komparatistische Perspektive die notwendige Relativierung bekommen werden. Dieser inklusive interdisziplinäre Ansatz ermöglicht einen holistischen Blick auf eine Vielfalt von Themen- und Problemkomplexen. Einreichungen sind nicht beschränkt auf die unten vorgeschlagenen Fragestellungen:

Gesellschaft in der Krise

–              Mediale, diskursive und semantische Konstruktion der Krise

–              Neue Formen des sozialen Protests

 –             Gesellschaftliche und/oder soziale Trennlinien

–              Identität in der Krise

–              Wahrnehmungen in der Krise: Klischees und Stereotypen und deren Instrumentalisierung

–              Sprache und Sprachnutzung in der Krise: ambivalente sprachliche Identifikation und/oder ethnische Hybridität

–              Gesundheitssystem in der Krise

–              Wertewandel und Krise

–              Natur und Umwelt in der Krise, Ökologische Krise

–              Wirtschaft und Krise/ Wirtschaftskrise/ Wirtschaft in der Krise

(Außen-)Politik in der Krise

–              Krise der multivektoralen Außenpolitik

–              Europäische Integrationsperspektive in der Krise

–              Geopolitik in der Krise: Zuordnung, Orientierung, Einflusssphären und deren Legitimation

–              Politische Kultur und das politische System in der Krise

–              Politische Parteien in der Krise

–              Transformation und Transformationswissenschaft in der Krise

–              Sozialstaat in der Krise

–              Minderheiten in der Krise

 

Recht und Rechtsstaatlichkeit in der Krise

–              Rechtsstaat in der Krise: Korruption, Unabhängigkeit, Vertrauen

–              Völkerrecht in der Krise: Durchsetzbarkeit, Souveränität und Selbstbestimmung

Geschichte der Krise und Geschichte in der Krise

–              Periodisierung der Krise(n)

–              Geschichtspolitik und Krise

Es ist Anliegen dieses Sammelbandes, die terra incognita der Ukraine durch eine Mischung aus empirischen und normativen Perspektiven auf die Krise(n) der Ukraine und problembezogenen Analysen auszuleuchten.

Angaben zur Einreichung von Beiträgen/Hinweise für AutorInnen

Bitte senden Sie Ihre Abstracts (Dateiformat: pdf oder docx) von nicht mehr als 2000 Zeichen bis Montag, den 22. September 2014, per E-Mail an Simone Stöhr (Simone.Stoehr@fes.de). Eine Entscheidung über die Aufnahme in dem Sammelband wird spätestens bis zum 6. Oktober 2014 erfolgen.

Anschließend bitten wir um einen entsprechenden Beitrag, dessen Umfang 20 Seiten, Times New Roman, Schriftgröße 14 (Fußnoten: Schriftgröße 13) nicht überschreiten soll. (Formalie_Reihe_IMPULSE)

Vom 23. bis 24. Oktober 2014 findet mit fachlicher und finanzieller Unterstützung der Promotionsförderung der Friedrich-Ebert-Stiftung ein AutorInnentreffen in Bonn statt, das vor allem der Verzahnung der Beiträge und einem konstruktiven Austausch zwischen AutorInnen und eingeladenen Gästen dienen soll.

Der Sammelband soll 2015 in der Reihe „IMPULSE – Studien zu Geschichte, Politik und Gesellschaft“ im Wissenschaftlichen Verlag Berlin (wvb) erscheinen.

Für weitere inhaltliche und formale Fragen und Anregungen steht Ihnen das Herausgeber-Team gerne zur Verfügung:

Tobias Endrich, Universität Passau, (endrich.tobias@gmail.com)

Khrystyna Schlyakhtovska, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg (khrystynaserg@gmail.com)

Galyna Spodarets, Universität Regensburg (galyna.spodarets@gmail.com)

Evgeniya Bakalova, Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung/HSFK (bakalova@hsfk.de)

Link zum Call als pdf: Alles neu macht der Maidan