Sammelband „Ukraine. Krisen. Perspektiven. Interdisziplinäre Betrachtungen eines Landes im Umbruch“ erschienen!

(Galyna Spodarets)

Ende Mai 2014 unternahm der AK Osteuropa eine Informationsreise in die Ukraine. Die Eindrücke von der Reise nach Kiew und Lwiw waren Anlass, sich näher mit den Hintergründen des aktuellen Konflikts, aber auch mit dem Land an sich auseinanderzusetzen.

Mitglieder des AK Osteuropa bei der EU-Delegation in Kiew Mai 2014
Mitglieder des AK Osteuropa bei der EU-Delegation in Kiew Mai 2014

Auf einem AutorInnen-Workshop im Oktober 2014 kristallisierte sich der übergreifende Begriff der ,Krise‘ heraus, der eine thematische Vielfalt von der aktuellen ,Ukraine-Krise‘ bis hin zu individuellen Krisenverständnissen abdecken sollte. Entstanden ist eine Sammlung von Beiträgen, die von völkerrechtlichen Überlegungen zur sog. ‚Krim-Krise‘ über soziologische Betrachtungen zum Wandel politischer Einstellungen in der Ukraine bis hin zu Analysen von Krisenmigration und literarischen Selbstdarstellungen reicht.

TeilnehmerInnen des AutorInnen-Workshops Oktober 2014
TeilnehmerInnen des AutorInnen-Workshops in Bonn       Oktober 2014

Was zeichnet diesen Sammelband aus?

  1. Die Ukraine selbst und ihre (innen-/außen-)politischen, rechtlichen, gesellschaftlichen und identitätsspezifischen Probleme stehen im Vordergrund der Analysen. Die Distanzierung vom ‚geopolitischen Fatalismus‘ und Hinwendung zu bisher unterbeleuchteten Ukraine-bezogenen Themen gibt dem Leser einen holistischen Überblick über die vielfältigen Krisen eines Landes im Umbruch.
  2. Dank der interdisziplinären Herangehensweise und theoretischen Vielfalt leistet dieser Sammelband einen mehrdimensionalen Beitrag zum Verständnis der komplexen gesellschaftspolitischen Zusammenhänge in der Ukraine.
  3. Die individuelle Definition des Analysegegenstandes (‚Krise‘) erlaubt nicht nur eine auf die aktuellen Umbrüche beschränkte Analyse, sondern auch die Identifikation und Untersuchung der Wechselwirkungen zwischen Ereignissen im Jahr 2014 und bereits bestehenden Krisen.
  4. Gerade wegen der sich überschlagenden Ereignisse hatten die AutorInnen die Absicht, sich nicht auf eine kommentierende, journalistische oder politikberatende, also rein anlassbezogene Herangehensweise zu beschränken, sondern vielmehr wissenschaftliche Hintergrundanalysen vorzustellen.
  5. Durch die Zusammenarbeit mit etablierten WissenschaftlerInnen und akademischem Nachwuchs (Studierende, Promovierende) hat dieser Sammelband durch die Synergie von verschiedenen Perspektiven profitiert.
Umschlag des Sammelbandes „Ukraine. Krisen. Perspektiven. Interdisziplinäre Betrachtungen eines Landes im Umbruch“
Umschlag des Sammelbandes „Ukraine. Krisen. Perspektiven. Interdisziplinäre Betrachtungen eines Landes im Umbruch“

Wir danken dem AK Osteuropa, dem Organisationsteam der Auslandsreise, den Referenten des Workshops, den AutorInnen des Sammelbandes und den HerausgeberInnen der Impulse-Reihe für die tatkräftige Unterstützung.

Wir würden uns sehr darüber freuen, wenn dieser Sammelband auf euer Interesse stößt und euch bei der Auseinandersetzung mit dem brennenden Thema weiterhilft. Die bibliographischen Angaben findet ihr unter folgendem Link:

http://www.wvberlin.com/programm/shop/einzelansicht/aktuell/ukraine-krisen-perspektiven/8a2a124d54f0d7aa64dfcded09083fb6/

 

Osteuropaforschung in Deutschland vor und nach „der Ukraine“ – Treffen des AK Osteuropa am 28. März in Bremen

(Elisabeth Schwarz)

„Und dann musste die Ehefrau, kurz bevor die 2 Tage Besuchszeit um waren, die kleinen verschweißten Manuskripte verschlucken und durch die Kontrolle kommen.“

So erklärte Maria Klassen, Archivarin bei der Forschungsstelle Osteuropa, wie die Verbreitung von Samisdaten auch aus dem Gefängnis heraus noch funktionieren konnte.

„Samisdat“, übersetzt „Selbstverlag“ das sind Schrift- und Kunststücke von Dissidenten aus der Sowejtzeit.

Samisdat - Röntgenaufnahme mit Tonspur
Samisdat – Röntgenaufnahme mit Tonspur (Foto: Tobias Endrich)
Verschluckte Nachricht aus Lager (Tobias Endrich)
Verschluckte Nachricht aus Lager (Foto: Tobias Endrich)

Davon und von anderen Periodika besitzt die Forschungsstelle Osteuropa an der Uni Bremen eine ganze Menge, wie wir, gleich zu Beginn unseres Arbeitskreistreffens bei einer Führung durch das Archiv der Forschungsstelle erfahren und selbst begutachten durften.

Nach der Archivführung am Freitagnachmittag folgte am Samstag die Vorstellung weiterer Projekte der Forschungsstelle Osteuropa durch Kateryna Bosko, die einerseits als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin an der Forschungsstelle tätig ist und andererseits selbst Promotions-Stipendiatin der Friedrich-Ebert-Stiftung war und langjähriges Mitglied des Arbeitskreises Osteuropa ist.

Der Fokus lag dabei auf zwei Dingen: Zum Einen berichtete Kateryna von den Forschungen und Ergebnissen für ihre Dissertation zum Thema „Negative Framing in hybrid regimes: the case study of gas politics in Ukraine“ – ein hochspannendes Thema, zu dem auch gleich kontroverse Diskussion insbesondere vor dem Hintergrund der zurückliegenden Ukraine-Reise des AK entflammte.

Zum Anderen ging es um die Länder-Analysen der Forschungsstelle und dort vor allem um die Ukraine-Analysen, denn Kateryna ist für dieses Land die Redakteurin. So wurden nicht nur inhaltliche Details ausgetauscht, sondern auch Erfahrungen mit redaktionellen Themen – die sicherlich auch für das Sammelband-Projekt des AK konstruktiv genutzt werden können.

Die abschließende Themen-Einheit wurde zu Vorstellung und Austausch von Forschungsvorhaben der AK-Mitglieder genutzt:

Zunächst präsentierte Evgeniya Bakalova, Promotionsstipendiatin der FES, ihre ersten Ergebnisse zum Promotionsthema „Russia´s Normative Alternative? Political and Civil Rights Norms`  Internalisation and Contestation Dynamics“. Den grundlegenden Aufbau bilden dabei qualitative Fallstudien zu NGOs, Presse/Demonstrationsfreiheit und zur Norm der internationalen Wahlbeobachtung. Dabei wird untersucht, in welchem Verhältnis Normanerkennung und Normanwendung stehen. Die Fallstudie zur Norm der internationalen Wahlbeobachtung konnte bereits überzeugende Ergebnisse aufweisen; es zeigten sich teilweise sehr große Diskrepanzen zwischen Normanerkennung und –umsetzung, die auch in den politischen Kontext eingeordnet werden konnten.

Anschließend wurde an Galyna Spodarets, ebenfalls Promotionsstipendiatin der FES übergeben, die zum Thema „Symbolische Bedeutungen des Flusses Dnjepr“ referierte und so auch die Nicht-Politologen auf einen Ausflug in das Feld ihrer Dissertationsarbeit mit Thema „Der Fluss als semantisches Raumparadigma in der ukrainischen Kultur“ mitnehmen konnte. Nach einem kurzen Überblick über allgemeine und geographische Fakten wurde dargelegt, welch große und enorm vielschichtige Bedeutung der Dnjepr hat: sei es als (Landes-)Grenze, als Handelsweg, als mythisches Objekt, als Sehnsuchtsquelle, zum Beispiel in der Literatur, oder wirtschaftlich – als beispielsweise nutzbar für Stauseen.

Galyna Spodarets präsentiert ihr Forschungsvorhaben (Foto: Tobias Endrich)
Galyna Spodarets präsentiert ihr Forschungsvorhaben (Foto: Tobias Endrich)

Den Abschluss bildete Kristin Eichhorn, FES-Stipendiatin der Grundförderung, die die Zwischenergebnisse ihrer Masterarbeit mit dem Titel „Conditions of Re-autocratization“ vorstellte. Sie wählt einen quantitativen Ansatz und wertet insgesamt 2743 Länderjahre in Studien aus, um nach klar festgelegten Kriterien Re-Autokratisierungen festzustellen, diese hinsichtlich bestimmter Kriterien auszuwerten und so Faktoren auszumachen, die eine Re-Autokratisierung (nach einer demokratischen Phase von mind. 4 Jahren) in einem Staat begünstigen. Dieses relativ unerforschte Gebiet konnte auch nach einem langen Tag nochmals großes Nachfrage- und Diskussionspotential entflammen, sodass aus den für die 3 Vorträge eingeplanten eineinhalb Stunden fast drei Stunden geworden waren.

Insgesamt lässt sich sagen, dass es ein inhaltlich äußerst interessantes und produktives Treffen war.

Nochmals bedanken möchten wir uns bei der Forschungsstelle Osteuropa.

Die Länderanalysen sind hier zu finden – kostenloses Abonnieren möglich.

„Alles neu macht der Maidan“ – Call for Papers!

 

„Alles neu macht der Maidan?“

Interdisziplinäre Perspektiven auf eine Ukraine im Umbruch

Call for contributions for an edited volume/Beiträge zu einem wissenschaftlichen Sammelband

 

Die Ukraine ist mit den Geschehnissen auf dem Maidan und der Krim in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Mit der brisanten Entwicklung in der Ostukraine und der drohenden machtpolitischen Ost-West-Konfrontation in Europa wuchs ein Bedarf an Analysen zur Lage in der Ukraine.

Die bisherigen Studien haben oft einen exklusiven empirischen oder rein theoretischen Fokus. Viele aktuelle Analysen sind zudem populärwissenschaftlicher Natur und kommentieren die aktuellen Ereignisse, ohne diese in einen breiteren Kontext zu stellen. Normativ-geprägte Ansätze (wie diejenige der Transformationsforschung) hingegen konzentrieren sich auf ausgewählte Aspekte und können die Umbrüche und ihre Komplexität nicht erschöpfend analysieren. Die Ukraine selbst und ihre (außen-)politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und sonstigen Probleme rücken gegenüber einer starken Betonung der geo- und außenpolitischen Aspekte oft in den Hintergrund der Analysen. Dabei bleibt das Land mit einer Bevölkerung von knapp 45 Millionen Menschen und dem neben Russland flächenmäßig größtem Territorium des europäischen Kontinents für die westliche Öffentlichkeit, Politik, und sogar Wissenschaft weitgehend unbekannt. Der jüngste Konflikt und die Ereignisse in und um die Ukraine zeigten die Gefahren dieser Vernachlässigung und gleichzeitig die Notwendigkeit umfassender Studien auf, die die Krise(n) der Ukraine einer vielseitigen Betrachtungsweise öffnen und die Ukraine selbst in den Mittelpunkt stellen.

Das Ziel des Sammelbandes ist, analytische Lücken mit Hilfe eines interdisziplinären Ansatzes zu identifizieren und ein holistisches Bild auf die vielfältigen Krisen einer Ukraine im Umbruch zu schaffen. Dank einer interdisziplinären Herangehensweise und einer theoretischen Vielfalt (z. B. Transformations- und Erinnerungsforschung, Oral History und Kontextanalyse, etc.) wird dieser Sammelband einen Beitrag zum Verständnis der gesellschaftspolitischen Zusammenhänge in der Ukraine in ihrer Rückwirkung auf die aktuellen Krisenprozesse leisten.

Inhaltliche Konzeption

Willkommen sind Beiträge aus allen Fachrichtungen, die die Krise(n) der Ukraine aus ihrer disziplinspezifischen Perspektive heraus identifizieren und betrachten. Aus transitionstheoretischer Sicht wird die Ukraine zuletzt als im Graubereich verharrend, die politische Entwicklung des letzten Jahrzehnts als Stillstand beschrieben (vgl. zuletzt Geissbühler, in: ders.(Hg.), Kiew ‑ Revolution 3.0). Im Fokus der Beiträge steht auch deswegen die Frage, ob es sich im Zusammenhang mit den/der identifizierten Krise(n) und aktuellen Umbrüchen potentiell von einer Zäsur oder einer Sackgasse sprechen lässt, und welche Möglichkeiten sich aus der(n) Krise(n) ergeben. Die jeweiligen Krisen (die aktuell und davor entstandenen), die den Analysegegenstand der einzelnen Beiträgen bilden, sind von den AutorInnen selbst zu identifizieren und im Bezug auf die Fragestellung zu untersuchen. Sowohl empirische, als auch theoretische Analysen sind von Interesse. Die individuelle Definition des Analysegegenstandes („Krise“) führt zu einer nicht notwendig auf die aktuellen Umbrüche („Ukraine-Krise“, „Krim-Krise“, „Krieg im Donbass“) beschränkten Analyse, die auch Wechselwirkungen der identifizierten, auch vor den Ereignissen 2014 bestehenden oder entstandenen Krisen untersuchen kann. Durch den Vergleich von unterschiedlichen (auch historischen) Krisenräumen soll ein Dialog der Perspektiven entstehen, während die primär auf den ukrainischen Raum bezogenen Themen durch eine komparatistische Perspektive die notwendige Relativierung bekommen werden. Dieser inklusive interdisziplinäre Ansatz ermöglicht einen holistischen Blick auf eine Vielfalt von Themen- und Problemkomplexen. Einreichungen sind nicht beschränkt auf die unten vorgeschlagenen Fragestellungen:

Gesellschaft in der Krise

–              Mediale, diskursive und semantische Konstruktion der Krise

–              Neue Formen des sozialen Protests

 –             Gesellschaftliche und/oder soziale Trennlinien

–              Identität in der Krise

–              Wahrnehmungen in der Krise: Klischees und Stereotypen und deren Instrumentalisierung

–              Sprache und Sprachnutzung in der Krise: ambivalente sprachliche Identifikation und/oder ethnische Hybridität

–              Gesundheitssystem in der Krise

–              Wertewandel und Krise

–              Natur und Umwelt in der Krise, Ökologische Krise

–              Wirtschaft und Krise/ Wirtschaftskrise/ Wirtschaft in der Krise

(Außen-)Politik in der Krise

–              Krise der multivektoralen Außenpolitik

–              Europäische Integrationsperspektive in der Krise

–              Geopolitik in der Krise: Zuordnung, Orientierung, Einflusssphären und deren Legitimation

–              Politische Kultur und das politische System in der Krise

–              Politische Parteien in der Krise

–              Transformation und Transformationswissenschaft in der Krise

–              Sozialstaat in der Krise

–              Minderheiten in der Krise

 

Recht und Rechtsstaatlichkeit in der Krise

–              Rechtsstaat in der Krise: Korruption, Unabhängigkeit, Vertrauen

–              Völkerrecht in der Krise: Durchsetzbarkeit, Souveränität und Selbstbestimmung

Geschichte der Krise und Geschichte in der Krise

–              Periodisierung der Krise(n)

–              Geschichtspolitik und Krise

Es ist Anliegen dieses Sammelbandes, die terra incognita der Ukraine durch eine Mischung aus empirischen und normativen Perspektiven auf die Krise(n) der Ukraine und problembezogenen Analysen auszuleuchten.

Angaben zur Einreichung von Beiträgen/Hinweise für AutorInnen

Bitte senden Sie Ihre Abstracts (Dateiformat: pdf oder docx) von nicht mehr als 2000 Zeichen bis Montag, den 22. September 2014, per E-Mail an Simone Stöhr (Simone.Stoehr@fes.de). Eine Entscheidung über die Aufnahme in dem Sammelband wird spätestens bis zum 6. Oktober 2014 erfolgen.

Anschließend bitten wir um einen entsprechenden Beitrag, dessen Umfang 20 Seiten, Times New Roman, Schriftgröße 14 (Fußnoten: Schriftgröße 13) nicht überschreiten soll. (Formalie_Reihe_IMPULSE)

Vom 23. bis 24. Oktober 2014 findet mit fachlicher und finanzieller Unterstützung der Promotionsförderung der Friedrich-Ebert-Stiftung ein AutorInnentreffen in Bonn statt, das vor allem der Verzahnung der Beiträge und einem konstruktiven Austausch zwischen AutorInnen und eingeladenen Gästen dienen soll.

Der Sammelband soll 2015 in der Reihe „IMPULSE – Studien zu Geschichte, Politik und Gesellschaft“ im Wissenschaftlichen Verlag Berlin (wvb) erscheinen.

Für weitere inhaltliche und formale Fragen und Anregungen steht Ihnen das Herausgeber-Team gerne zur Verfügung:

Tobias Endrich, Universität Passau, (endrich.tobias@gmail.com)

Khrystyna Schlyakhtovska, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg (khrystynaserg@gmail.com)

Galyna Spodarets, Universität Regensburg (galyna.spodarets@gmail.com)

Evgeniya Bakalova, Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung/HSFK (bakalova@hsfk.de)

Link zum Call als pdf: Alles neu macht der Maidan

Nationalismus in der Ukraine als Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie

(Magnus Wurm]

Ja, begrabt mich und erhebt euch,
Und zersprenget eure Ketten,
Und mit schlimmem Feindesblute

Möge sich die Freiheit röten!

Und am Tag, der euch die Freiheit
Und Verbrüderung wird schenken,
Möget ihr mit einem stillen,
Guten Worte mein gedenken.“1

So schrieb der ukrainische Nationaldichter Taras Schewtschenko im letzten Absatz seines Gedichts „Vermächtnis“ von 1945.

Schewtschzenko gilt als Ikone des (positiven) ukrainischen Nationalismus, „in seinem Œuvre kämpfte der im russischen Reich [sic!] als Leibeigener Geborene für die Ideale von Freiheit und Gerechtigkeit2. Im Zuge der Proteste auf dem Kiewer Maidan wurde er wieder populär, die Neue Züricher Zeitung nennt ihn gar den Heiligen Geist des Maidan3 das Deutschland Radio spricht vom Ukrainischen Goethe4, zu seinem 200 Geburtstag wurde ihm auf dem Maidan ein Denkmal gesetzt.5

Doch wie sind seine Worte 169 Jahre später zu verstehen und wie sind sie im aktuellen politischen Kontext zu interpretieren? Kann man Schewtschzenkos Zeilen gar als Aufforderung und Anleitung für Demokratie lesen, Demokratie durch Verbrüderung, als Einigkeit oder Gemeinschaft, ergo durch eine Nation?

Mit der Französischen Revolution 1789 kamen Nationalismus UND Demokratie in die Welt, erst durch nationale Einigkeit konnte die Freiheit in Form der Demokratie umgesetzt werden.

„In Europa und Nordamerika ist die Demokratie überall auf dem Nährboden der Nation gewachsen. Historisch waren Demokratisierung und Nationsbildung eng miteinander verbunden.“6

Konfliktpotential bietet hierbei natürlich die Fehlende ethnischer Homogenität, was gleichzeitig auch das negative Potential von Nationalismus bedeutet, indem radikale Vertreter eine einseitige, exklusive, nationale Identität erzwingen wollen. So aktuell VertreterInnen der Partei Swoboda, die gegen den russischen Einfluss kämpft, während sich dagegen ostukrainische Separatisten einseitig auf die russischen Prägungen berufen und andere Elemente ukrainischer Nationalidentität verneinen.

Lösung und Chance zugleich ist ein „liberaler, inklusiver Nationalismus“7, der einen positiven, einenden Charakter hat und damit zugleich die aktuellen politischen Probleme lösen könnte.

Das würde konkret bedeuten, dass eine Brücke zwischen dem Westen der Ukraine und dem russisch geprägten Osten und Süden der Ukraine geschlagen wird. Dies heißt, ganz im Sinne Schewtschenkos, dass sich diese Landesteile von russischem Einfluss befreien (Schewtschenko Zeile zwei „Und zersprenget eure Ketten, Und mit schlimmem Feindesblute“) und ihre Freiheit nutzen sollen um sich mit dem Westen der Ukraine wieder zu vereinen (Schewtschenko Zeile fünf „Und Verbrüderung wird schenken“).

Politische Identität – und damit Nationalismus – ist folglich als Voraussetzung für Demokratie zu verstehen.

Diesem Nationalismus sollte Russland eine Chance geben, denn in der Realität ist das Gros der Bürger in der Ostukraine gegen einen Anschluss an Russland.8

So ist abschließend festzustellen was Calhoun schreibt: „Wenn die Demokratie blühen soll, darf der Nationalismus kein Feind der Unterschiede sein.“9 Dem würde sicherlich auch der Dichter Taras Schewtschenko zustimmen.

_________________________________

1 Europäische Lyrik in drei Bänden, Dritter Band: Dichtung der UdSSR, Moskva, Progress-Verlag, 1977. Online abrufbar unter: <http://geo.viaregia.org/testbed/pool/editmain/T1_12266_Schewtschenko.Wenn.ich.sterbe.html>

2 Andruchowytsch, Juri: „Der Nationaldichter Taras Schewtschenko – Der heilige [sic!] Geist des Maidan“, 07.03.2014, in Neue Züricher Zeitung, online abrufbar unter dem Internet Auftritt der NZZ: www.nzz.ch (http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/literatur-und-kunst/der-heilige-geist-des-maidan-1.18258225).

3 Vgl. ebenda.

4 Block, Vera: „Der Goethe der Ukraine – Taras Schewtschenkos Verse sind aktueller denn je“, 09.03.2014, in Deutschland Radio Kultur, online abrufbar unter dem Internetauftritt des Deutschlandradios: www.deutschlandradiokultur.de (http://www.deutschlandradiokultur.de/klassiker-der-goethe-der-ukraine.1013.de.html?dram:article_id=279584).

5Gerlach, Thomas: Nationaldichter der Ukraine – Sein Lebensthema war sein Land, 06.03.2014, auf www.taz.de. Onlien abrufbar unter dem Internetauftrtt der Taz: www.taz.de (http://www.taz.de).

6 Simon, Gerhard (2011): „Demokratie und Nation – die Demokratie und ihre Gefährdung“ in: Kappeler, Andreas (Hrsg.): Die Ukraine – Prozesse der Nationsbildung, Böhlau Verlag Köln, S. 361 – 374 (künftig zitiert als Gerhard 2011), S. 364.

7 Ebenda, S. 365.

8 welt.de: Mehrheit in Ostukraine will keinen Russland-Beitritt, 19.04.14, Online abrufbar unter dem Internetauftritt der Welt: www.welt.de (http://www.welt.de/politik/ausland/article127123712/Mehrheit-in-Ostukraine-will-keinen-Russland-Beitritt.html).

9 Gerhard 2011, S. 365.

Meine kanadisch-ukrainisch-deutsche Sicht des Anfangs des Euromaidan

(Alexandra Jadwiga Wößner)

Dieser Beitrag befasst sich mit meiner persönlichen Wahrnehmung, als die Unruhen in Kiev begannen. Zu jenem Zeitpunkt befand ich mich in Edmonton, Alberta, Kanada und studierte Ukrainistik an der University of Alberta. In Kanada leben mehr als eine Million Menschen ukrainischer Herkunft. Besonders in Edmonton scheinen sie einflussreich zu sein, weil sie dort eine der größten Minderheiten darstellen. Alleine durch mein Studium war ich im engen Kontakt mit Ukrainerinnen und Ukrainern, aber mein großes Interesse an der Ukraine motivierte mich dazu, mich schnell in ukrainischen Kreisen außerhalb der Universität wiederzufinden. Somit konnte ich hautnah die Reaktionen der Kanadier-UkrainerInnen auf die Euromaidan-Proteste miterleben.

Der Euromaidan tauchte als Hashtag zuerst auf Twitter-Accounts auf und gab den Protesten, die sich meist auf dem Majdan Nesaleschnosti (Platz der Unabhängigkeit) in Kiev seit dem 21. November 2013 abspielten, einen Namen. Wie bereits ersichtlich, setzt sich der Name aus Europa und Maidan zusammen, um auf die proeuropäische Haltung der Demonstrierenden aufmerksam zu machen. Der friedliche Protest wurde durch den Beschluss der ukrainischen Regierung hervorgerufen, das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union nicht unterzeichnen zu wollen. Dieser Beschluss kam sowohl für die Ukrainerinnen und Ukrainer als auch für die Ukrainischstämmigen in Kanada sehr überraschend.

Die Ukrainerinnen und Ukrainer, die sich mit ihren Verwandten, Angehörigen und Freunden in Kanada in Verbindung setzten, gaben an, sich von der Regierung betrogen zu fühlen und fragten sich, wie sich die Regierung anmaßen konnte, über das Volk hinweg eine Entscheidung zu treffen, die nicht mit der Meinung der Mehrheit konform sei. Die Enttäuschung war auch bei den kanadischen Ukrainerinnen und Ukrainern groß, sodass schon am 24. November 2013, also drei Tage nach Beginn der Euromaidan-Proteste in Kiev, bereits eine Demonstration auf dem Churchill Square in Edmonton stattfand. Als Grund für die Demonstration wurde die Solidarisierung mit den Protestierenden in Kiev genannt. Ein Nachrichtendienst war auch vor Ort, berichtete von der Demonstration und interviewte einige Protestierende. Für die Demonstration wurde auf facebook und in den ukrainischen Nationalkirchen im Gottesdienst geworben. Die Protestierenden hatten sich erkenntlich gemacht, indem sie Ukraine- oder Europaflaggen in die Höhe hielten. Die Demonstrierenden sangen ukrainische Volkslieder und hielten Ansprachen, in denen sie ihre Sorgen und ihren Unmut in mündlicher Form darboten. Die Plakate hatten folgende Aufschriften: „Europa braucht die Ukraine“, „Putin – Finger weg von der Ukraine“, „Edmonton unterstützt die Ukraine“, „Die Ukraine ist Europa“ und „Kein Russland zwischen der Ukraine und Europa“. Sie deuteten an, dass Euromaidan nicht nur Kritik an der Entscheidung der Regierung übe, sondern direkt die Regierung kritisiere. Es wurde auch erwähnt, dass der Einfluss von Russland auf die Ukraine durch den ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowytsch gewollt sei und bewusst auf diese Weise gelenkt wurde. Rücktrittsforderungen an Präsident Janukowytsch stellten zwar nicht die Kernforderung der Demonstrierenden auf dem Churchill Square dar, aber sie schwangen in den Aussagen der Demonstrierenden mit. Nach circa einer Stunde löste sich die Gruppe der Protestierenden auf und jeder ging seinen Weg – mit der Absicht, so schnell wie möglich wieder Kontakt zu Freunden und Verwandten in der Ukraine aufzunehmen.

Die Höhepunkte der Kiever Proteste sollten bedauerlicherweise erst folgen. Sie lösten noch größere Ängste und Sorgen bei den Ukrainerinnen und Ukrainern in Edmonton aus und führten dazu, dass sich insgesamt mehr Menschen engagierten und es mit jeder Demonstration mehr Demonstrierende gab. Für mich im konkreten Fall hieß es auch, mich mehr über die Ukraine zu informieren und vor meiner Abreise an einer zweiten Demonstration teilzunehmen. Meinen Professorinnen, Professoren und Kommilitoninnen ukrainischer Herkunft hat man die Sorge wirklich angesehen. Sie sagten mir, dass sie nachts nicht schlafen könnten und ihm ständigen Kontakt mit der Ukraine wären. Eine Professorin entschuldigte sich sogar gegen Ende des Semesters (Anfang Dezember), dass die Qualität ihrer Veranstaltung durch die Unruhen in der Ukraine so nachgelassen hätte. Eine Kommilitonin machte sich schwere Vorwürfe, dass sie nicht auf dem Maidan sein könne, um die Protestierenden dort zu unterstützen.

Zu Beginn der Unruhen in Kiev habe ich viel Menschlichkeit in Edmonton erlebt. Ich sah viele Menschen, die sehr besorgt waren um ihre Angehörigen und es nur schwer ertragen konnten, dass in ihrer Heimat die Situation so angespannt war. Von Herzen wünschte ich ihnen alles Gute und hoffte auf einen gewaltfreien und schnellen Ausgang der kritischen Situation. Leider mündete der Euromaidan in die Krim-Krise und den Konflikt in der Ostukraine. Ein Ende ist betrüblicherweise nicht in Sicht. Ich hoffe sehr, dass ich nächste Woche in Kiev und in Lviv (auf der Studienfahrt des AK Osteuropas) wieder auf diese Menschlichkeit stoße, da mir in Deutschland und in der deutschen Presse das Mitgefühl und Verständnis für die protestierenden Menschen in Kiev und anderen Städte dieser Welt unzureichend erscheint.

Möge die Studienfahrt nächste Woche für uns in vielerlei Hinsicht eine hilfreiche Erfahrung sein.