Osteuropaforschung in Deutschland vor und nach „der Ukraine“ – Treffen des AK Osteuropa am 28. März in Bremen

(Elisabeth Schwarz)

„Und dann musste die Ehefrau, kurz bevor die 2 Tage Besuchszeit um waren, die kleinen verschweißten Manuskripte verschlucken und durch die Kontrolle kommen.“

So erklärte Maria Klassen, Archivarin bei der Forschungsstelle Osteuropa, wie die Verbreitung von Samisdaten auch aus dem Gefängnis heraus noch funktionieren konnte.

„Samisdat“, übersetzt „Selbstverlag“ das sind Schrift- und Kunststücke von Dissidenten aus der Sowejtzeit.

Samisdat - Röntgenaufnahme mit Tonspur
Samisdat – Röntgenaufnahme mit Tonspur (Foto: Tobias Endrich)
Verschluckte Nachricht aus Lager (Tobias Endrich)
Verschluckte Nachricht aus Lager (Foto: Tobias Endrich)

Davon und von anderen Periodika besitzt die Forschungsstelle Osteuropa an der Uni Bremen eine ganze Menge, wie wir, gleich zu Beginn unseres Arbeitskreistreffens bei einer Führung durch das Archiv der Forschungsstelle erfahren und selbst begutachten durften.

Nach der Archivführung am Freitagnachmittag folgte am Samstag die Vorstellung weiterer Projekte der Forschungsstelle Osteuropa durch Kateryna Bosko, die einerseits als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin an der Forschungsstelle tätig ist und andererseits selbst Promotions-Stipendiatin der Friedrich-Ebert-Stiftung war und langjähriges Mitglied des Arbeitskreises Osteuropa ist.

Der Fokus lag dabei auf zwei Dingen: Zum Einen berichtete Kateryna von den Forschungen und Ergebnissen für ihre Dissertation zum Thema „Negative Framing in hybrid regimes: the case study of gas politics in Ukraine“ – ein hochspannendes Thema, zu dem auch gleich kontroverse Diskussion insbesondere vor dem Hintergrund der zurückliegenden Ukraine-Reise des AK entflammte.

Zum Anderen ging es um die Länder-Analysen der Forschungsstelle und dort vor allem um die Ukraine-Analysen, denn Kateryna ist für dieses Land die Redakteurin. So wurden nicht nur inhaltliche Details ausgetauscht, sondern auch Erfahrungen mit redaktionellen Themen – die sicherlich auch für das Sammelband-Projekt des AK konstruktiv genutzt werden können.

Die abschließende Themen-Einheit wurde zu Vorstellung und Austausch von Forschungsvorhaben der AK-Mitglieder genutzt:

Zunächst präsentierte Evgeniya Bakalova, Promotionsstipendiatin der FES, ihre ersten Ergebnisse zum Promotionsthema „Russia´s Normative Alternative? Political and Civil Rights Norms`  Internalisation and Contestation Dynamics“. Den grundlegenden Aufbau bilden dabei qualitative Fallstudien zu NGOs, Presse/Demonstrationsfreiheit und zur Norm der internationalen Wahlbeobachtung. Dabei wird untersucht, in welchem Verhältnis Normanerkennung und Normanwendung stehen. Die Fallstudie zur Norm der internationalen Wahlbeobachtung konnte bereits überzeugende Ergebnisse aufweisen; es zeigten sich teilweise sehr große Diskrepanzen zwischen Normanerkennung und –umsetzung, die auch in den politischen Kontext eingeordnet werden konnten.

Anschließend wurde an Galyna Spodarets, ebenfalls Promotionsstipendiatin der FES übergeben, die zum Thema „Symbolische Bedeutungen des Flusses Dnjepr“ referierte und so auch die Nicht-Politologen auf einen Ausflug in das Feld ihrer Dissertationsarbeit mit Thema „Der Fluss als semantisches Raumparadigma in der ukrainischen Kultur“ mitnehmen konnte. Nach einem kurzen Überblick über allgemeine und geographische Fakten wurde dargelegt, welch große und enorm vielschichtige Bedeutung der Dnjepr hat: sei es als (Landes-)Grenze, als Handelsweg, als mythisches Objekt, als Sehnsuchtsquelle, zum Beispiel in der Literatur, oder wirtschaftlich – als beispielsweise nutzbar für Stauseen.

Galyna Spodarets präsentiert ihr Forschungsvorhaben (Foto: Tobias Endrich)
Galyna Spodarets präsentiert ihr Forschungsvorhaben (Foto: Tobias Endrich)

Den Abschluss bildete Kristin Eichhorn, FES-Stipendiatin der Grundförderung, die die Zwischenergebnisse ihrer Masterarbeit mit dem Titel „Conditions of Re-autocratization“ vorstellte. Sie wählt einen quantitativen Ansatz und wertet insgesamt 2743 Länderjahre in Studien aus, um nach klar festgelegten Kriterien Re-Autokratisierungen festzustellen, diese hinsichtlich bestimmter Kriterien auszuwerten und so Faktoren auszumachen, die eine Re-Autokratisierung (nach einer demokratischen Phase von mind. 4 Jahren) in einem Staat begünstigen. Dieses relativ unerforschte Gebiet konnte auch nach einem langen Tag nochmals großes Nachfrage- und Diskussionspotential entflammen, sodass aus den für die 3 Vorträge eingeplanten eineinhalb Stunden fast drei Stunden geworden waren.

Insgesamt lässt sich sagen, dass es ein inhaltlich äußerst interessantes und produktives Treffen war.

Nochmals bedanken möchten wir uns bei der Forschungsstelle Osteuropa.

Die Länderanalysen sind hier zu finden – kostenloses Abonnieren möglich.

Nationalismus in der Ukraine als Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie

(Magnus Wurm]

Ja, begrabt mich und erhebt euch,
Und zersprenget eure Ketten,
Und mit schlimmem Feindesblute

Möge sich die Freiheit röten!

Und am Tag, der euch die Freiheit
Und Verbrüderung wird schenken,
Möget ihr mit einem stillen,
Guten Worte mein gedenken.“1

So schrieb der ukrainische Nationaldichter Taras Schewtschenko im letzten Absatz seines Gedichts „Vermächtnis“ von 1945.

Schewtschzenko gilt als Ikone des (positiven) ukrainischen Nationalismus, „in seinem Œuvre kämpfte der im russischen Reich [sic!] als Leibeigener Geborene für die Ideale von Freiheit und Gerechtigkeit2. Im Zuge der Proteste auf dem Kiewer Maidan wurde er wieder populär, die Neue Züricher Zeitung nennt ihn gar den Heiligen Geist des Maidan3 das Deutschland Radio spricht vom Ukrainischen Goethe4, zu seinem 200 Geburtstag wurde ihm auf dem Maidan ein Denkmal gesetzt.5

Doch wie sind seine Worte 169 Jahre später zu verstehen und wie sind sie im aktuellen politischen Kontext zu interpretieren? Kann man Schewtschzenkos Zeilen gar als Aufforderung und Anleitung für Demokratie lesen, Demokratie durch Verbrüderung, als Einigkeit oder Gemeinschaft, ergo durch eine Nation?

Mit der Französischen Revolution 1789 kamen Nationalismus UND Demokratie in die Welt, erst durch nationale Einigkeit konnte die Freiheit in Form der Demokratie umgesetzt werden.

„In Europa und Nordamerika ist die Demokratie überall auf dem Nährboden der Nation gewachsen. Historisch waren Demokratisierung und Nationsbildung eng miteinander verbunden.“6

Konfliktpotential bietet hierbei natürlich die Fehlende ethnischer Homogenität, was gleichzeitig auch das negative Potential von Nationalismus bedeutet, indem radikale Vertreter eine einseitige, exklusive, nationale Identität erzwingen wollen. So aktuell VertreterInnen der Partei Swoboda, die gegen den russischen Einfluss kämpft, während sich dagegen ostukrainische Separatisten einseitig auf die russischen Prägungen berufen und andere Elemente ukrainischer Nationalidentität verneinen.

Lösung und Chance zugleich ist ein „liberaler, inklusiver Nationalismus“7, der einen positiven, einenden Charakter hat und damit zugleich die aktuellen politischen Probleme lösen könnte.

Das würde konkret bedeuten, dass eine Brücke zwischen dem Westen der Ukraine und dem russisch geprägten Osten und Süden der Ukraine geschlagen wird. Dies heißt, ganz im Sinne Schewtschenkos, dass sich diese Landesteile von russischem Einfluss befreien (Schewtschenko Zeile zwei „Und zersprenget eure Ketten, Und mit schlimmem Feindesblute“) und ihre Freiheit nutzen sollen um sich mit dem Westen der Ukraine wieder zu vereinen (Schewtschenko Zeile fünf „Und Verbrüderung wird schenken“).

Politische Identität – und damit Nationalismus – ist folglich als Voraussetzung für Demokratie zu verstehen.

Diesem Nationalismus sollte Russland eine Chance geben, denn in der Realität ist das Gros der Bürger in der Ostukraine gegen einen Anschluss an Russland.8

So ist abschließend festzustellen was Calhoun schreibt: „Wenn die Demokratie blühen soll, darf der Nationalismus kein Feind der Unterschiede sein.“9 Dem würde sicherlich auch der Dichter Taras Schewtschenko zustimmen.

_________________________________

1 Europäische Lyrik in drei Bänden, Dritter Band: Dichtung der UdSSR, Moskva, Progress-Verlag, 1977. Online abrufbar unter: <http://geo.viaregia.org/testbed/pool/editmain/T1_12266_Schewtschenko.Wenn.ich.sterbe.html>

2 Andruchowytsch, Juri: „Der Nationaldichter Taras Schewtschenko – Der heilige [sic!] Geist des Maidan“, 07.03.2014, in Neue Züricher Zeitung, online abrufbar unter dem Internet Auftritt der NZZ: www.nzz.ch (http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/literatur-und-kunst/der-heilige-geist-des-maidan-1.18258225).

3 Vgl. ebenda.

4 Block, Vera: „Der Goethe der Ukraine – Taras Schewtschenkos Verse sind aktueller denn je“, 09.03.2014, in Deutschland Radio Kultur, online abrufbar unter dem Internetauftritt des Deutschlandradios: www.deutschlandradiokultur.de (http://www.deutschlandradiokultur.de/klassiker-der-goethe-der-ukraine.1013.de.html?dram:article_id=279584).

5Gerlach, Thomas: Nationaldichter der Ukraine – Sein Lebensthema war sein Land, 06.03.2014, auf www.taz.de. Onlien abrufbar unter dem Internetauftrtt der Taz: www.taz.de (http://www.taz.de).

6 Simon, Gerhard (2011): „Demokratie und Nation – die Demokratie und ihre Gefährdung“ in: Kappeler, Andreas (Hrsg.): Die Ukraine – Prozesse der Nationsbildung, Böhlau Verlag Köln, S. 361 – 374 (künftig zitiert als Gerhard 2011), S. 364.

7 Ebenda, S. 365.

8 welt.de: Mehrheit in Ostukraine will keinen Russland-Beitritt, 19.04.14, Online abrufbar unter dem Internetauftritt der Welt: www.welt.de (http://www.welt.de/politik/ausland/article127123712/Mehrheit-in-Ostukraine-will-keinen-Russland-Beitritt.html).

9 Gerhard 2011, S. 365.

Meine kanadisch-ukrainisch-deutsche Sicht des Anfangs des Euromaidan

(Alexandra Jadwiga Wößner)

Dieser Beitrag befasst sich mit meiner persönlichen Wahrnehmung, als die Unruhen in Kiev begannen. Zu jenem Zeitpunkt befand ich mich in Edmonton, Alberta, Kanada und studierte Ukrainistik an der University of Alberta. In Kanada leben mehr als eine Million Menschen ukrainischer Herkunft. Besonders in Edmonton scheinen sie einflussreich zu sein, weil sie dort eine der größten Minderheiten darstellen. Alleine durch mein Studium war ich im engen Kontakt mit Ukrainerinnen und Ukrainern, aber mein großes Interesse an der Ukraine motivierte mich dazu, mich schnell in ukrainischen Kreisen außerhalb der Universität wiederzufinden. Somit konnte ich hautnah die Reaktionen der Kanadier-UkrainerInnen auf die Euromaidan-Proteste miterleben.

Der Euromaidan tauchte als Hashtag zuerst auf Twitter-Accounts auf und gab den Protesten, die sich meist auf dem Majdan Nesaleschnosti (Platz der Unabhängigkeit) in Kiev seit dem 21. November 2013 abspielten, einen Namen. Wie bereits ersichtlich, setzt sich der Name aus Europa und Maidan zusammen, um auf die proeuropäische Haltung der Demonstrierenden aufmerksam zu machen. Der friedliche Protest wurde durch den Beschluss der ukrainischen Regierung hervorgerufen, das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union nicht unterzeichnen zu wollen. Dieser Beschluss kam sowohl für die Ukrainerinnen und Ukrainer als auch für die Ukrainischstämmigen in Kanada sehr überraschend.

Die Ukrainerinnen und Ukrainer, die sich mit ihren Verwandten, Angehörigen und Freunden in Kanada in Verbindung setzten, gaben an, sich von der Regierung betrogen zu fühlen und fragten sich, wie sich die Regierung anmaßen konnte, über das Volk hinweg eine Entscheidung zu treffen, die nicht mit der Meinung der Mehrheit konform sei. Die Enttäuschung war auch bei den kanadischen Ukrainerinnen und Ukrainern groß, sodass schon am 24. November 2013, also drei Tage nach Beginn der Euromaidan-Proteste in Kiev, bereits eine Demonstration auf dem Churchill Square in Edmonton stattfand. Als Grund für die Demonstration wurde die Solidarisierung mit den Protestierenden in Kiev genannt. Ein Nachrichtendienst war auch vor Ort, berichtete von der Demonstration und interviewte einige Protestierende. Für die Demonstration wurde auf facebook und in den ukrainischen Nationalkirchen im Gottesdienst geworben. Die Protestierenden hatten sich erkenntlich gemacht, indem sie Ukraine- oder Europaflaggen in die Höhe hielten. Die Demonstrierenden sangen ukrainische Volkslieder und hielten Ansprachen, in denen sie ihre Sorgen und ihren Unmut in mündlicher Form darboten. Die Plakate hatten folgende Aufschriften: „Europa braucht die Ukraine“, „Putin – Finger weg von der Ukraine“, „Edmonton unterstützt die Ukraine“, „Die Ukraine ist Europa“ und „Kein Russland zwischen der Ukraine und Europa“. Sie deuteten an, dass Euromaidan nicht nur Kritik an der Entscheidung der Regierung übe, sondern direkt die Regierung kritisiere. Es wurde auch erwähnt, dass der Einfluss von Russland auf die Ukraine durch den ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowytsch gewollt sei und bewusst auf diese Weise gelenkt wurde. Rücktrittsforderungen an Präsident Janukowytsch stellten zwar nicht die Kernforderung der Demonstrierenden auf dem Churchill Square dar, aber sie schwangen in den Aussagen der Demonstrierenden mit. Nach circa einer Stunde löste sich die Gruppe der Protestierenden auf und jeder ging seinen Weg – mit der Absicht, so schnell wie möglich wieder Kontakt zu Freunden und Verwandten in der Ukraine aufzunehmen.

Die Höhepunkte der Kiever Proteste sollten bedauerlicherweise erst folgen. Sie lösten noch größere Ängste und Sorgen bei den Ukrainerinnen und Ukrainern in Edmonton aus und führten dazu, dass sich insgesamt mehr Menschen engagierten und es mit jeder Demonstration mehr Demonstrierende gab. Für mich im konkreten Fall hieß es auch, mich mehr über die Ukraine zu informieren und vor meiner Abreise an einer zweiten Demonstration teilzunehmen. Meinen Professorinnen, Professoren und Kommilitoninnen ukrainischer Herkunft hat man die Sorge wirklich angesehen. Sie sagten mir, dass sie nachts nicht schlafen könnten und ihm ständigen Kontakt mit der Ukraine wären. Eine Professorin entschuldigte sich sogar gegen Ende des Semesters (Anfang Dezember), dass die Qualität ihrer Veranstaltung durch die Unruhen in der Ukraine so nachgelassen hätte. Eine Kommilitonin machte sich schwere Vorwürfe, dass sie nicht auf dem Maidan sein könne, um die Protestierenden dort zu unterstützen.

Zu Beginn der Unruhen in Kiev habe ich viel Menschlichkeit in Edmonton erlebt. Ich sah viele Menschen, die sehr besorgt waren um ihre Angehörigen und es nur schwer ertragen konnten, dass in ihrer Heimat die Situation so angespannt war. Von Herzen wünschte ich ihnen alles Gute und hoffte auf einen gewaltfreien und schnellen Ausgang der kritischen Situation. Leider mündete der Euromaidan in die Krim-Krise und den Konflikt in der Ostukraine. Ein Ende ist betrüblicherweise nicht in Sicht. Ich hoffe sehr, dass ich nächste Woche in Kiev und in Lviv (auf der Studienfahrt des AK Osteuropas) wieder auf diese Menschlichkeit stoße, da mir in Deutschland und in der deutschen Presse das Mitgefühl und Verständnis für die protestierenden Menschen in Kiev und anderen Städte dieser Welt unzureichend erscheint.

Möge die Studienfahrt nächste Woche für uns in vielerlei Hinsicht eine hilfreiche Erfahrung sein.

Gedanken zum Thema „ukrainischer Nationalismus“

(Khrystyna Shlyakhtovska)

Wie wahrscheinlich viele ausländische Studierende habe ich zwei große Sorgen: ob ich frei nach Hause (ins Heimatland) und zurück fahren kann; und ob es meiner Familie dort gut geht. Als Studentin, die Wirtschaft und Jura studiert, würde ich diese Probleme folgendermaßen kategorisieren: Freizügigkeit und wirtschaftliche Lage eines Landes.

Als in der Ukraine am Ende des Jahres 2013 sozialpolitische Umwandlungen angefangen haben, habe ich mir über meine Freizügigkeit noch keine Sorgen gemacht. Eher habe ich mich darauf gefreut, dass in meinem Land eine solch große Bewegung und eventuell auch große Veränderungen stattfinden können. Euromaidan[1] könnte, zum Beispiel, dazu führen, dass in wenigen Jahren meine Eltern kein Visum brauchen werden, um mich zu besuchen.

Ich habe angefangen mir Sorgen zu machen, als der Euromaidan mehrere Monate still stand und aktiv von den Medien diskutiert wurde. Ab und zu (und immer öfter) wurde geschrieben, dass nationalistische Bewegungen einen wesentlichen Bestandteil und sogar eine der wichtigsten Lenkungskräfte des Euromaidan und entsprechend auch der sozialpolitischen Umwandlungen in der Ukraine sind. Dabei wurden diesem Nationalismus die schlechtesten Merkmale von nationalistischer Ideologie zugeschrieben. Die Frage meiner Freizügigkeit ist plötzlich offen geworden. Denn wenn dieser angeblich prägende Nationalismus tatsächlich eine ganz radikale Ausprägungen in meinem Land bekommt, darf ich nicht mehr nach Hause? Solche Menschen wie ich, Menschen, die im Ausland studieren, deren Freunde Ausländer und deren Verwandte Angehörige anderer Nationen sind, wären bei radikalen Nationalisten als Verräter angesehen. Und dann… ich weiß nicht, was dann passieren könnte. Folglich ist die Frage des Nationalismus in der Ukraine sehr wichtig für mich geworden. Welche Rolle spielt der Nationalismus also in der Ukraine?

Nach dieser ersten Frage kam noch eine. Was passiert, wenn tatsächlich Nationalismus in seiner radikalen Ausprägung in der Ukraine auf dem Vormarsch ist? Hat dann meine Familie weiter Mittel für die Lebensunterhaltung zur Verfügung? Welche ökonomischen Auswirkungen könnte ein mögliches Erstarken des Nationalismus in der Ukraine haben?

Um eine Antwort auf meine erste Frage zu finden, habe ich statistische Daten betrachtet. Die Umfragen, die ich gefunden habe, beziehen sich auf das ganze Land und seine Einwohner. Ihnen zufolge haben die „rechten“ Kandidaten bei der Präsidentschaftswahl -Oleh Tjahnybok und Dmytro Jarosch – zusammen Unterstützung von maximal 3,7 % der Wähler. Die politischen Parteien dieser zwei Kandidaten: „Freiheit“ (Oleh Tjahnybok) und „Rechter Sektor“ (Dmytro Jarosch) haben zusammen die Unterstützung von 6-7 % der Wähler[2]. Diese Daten sind ein erstes Anzeichen dafür, dass die radikalen Nationalisten in der Ukraine gar nicht so eine große Rolle spielen, wie in Medien dargestellt.

Es erscheint mir auch sinnvoll auf die letzte Parlamentswahl in der Ukraine im Jahr 2012 Rücksicht zu nehmen. Damals hat die Partei „Freiheit“ noch 10,44 % Stimmen der Wähler bekommen[3]. Daraus kann geschlossen werden, dass die Unterstützung der „rechten“ Parteien in der Ukraine in den letzten eineinhalb Jahren gesunken ist. Radikaler Nationalismus scheint an Zustimmung zu verlieren.

Wenn Euromaidan in diesem Text als Lenkungskraft von sozialpolitischen Umwandlungen im Land genannt wurde, wäre es sinnvoll, die Beweggründe der Euromaidan-Aktivisten näher zu betrachten. Zu diesen gehörten:

–              Nicht-Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit EU (seitens des Präsidenten);

–              Repressionen der Regierung gegen die Protestierenden;

–              die Bestrebung, zum Machtwechsel beizutragen;

–              der Wunsch, das Leben in der Ukraine zu verändern;

–              Gefahr, dass die Ukraine der Zollunion beitritt und sich Russland annähert; Rückzug der Demokratie;

–              Gefahr der Etablierung einer Diktatur[4].

Keine der genannten Gründe beinhaltet oder fußt auf nationalistischen Ideen. Darüber hinaus, würde ich persönlich vermuten, hat der radikale Nationalismus keine Chancen, sich in einem Land zu entwickeln, wo die Menschen für Demokratie und gegen Diktatur kämpfen.

Von den oben genannten Beweggründen haben 53,5 % der Befragten Euromaidan-Aktivisten die Nicht-Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit EU genannt. Das Abkommen sah vor allem die Abschaffung der Zölle und attraktive Bedingungen für die europäischen Unternehmer in der Ukraine vor. Das sollte eine aktive wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Ukraine und EU bedeuten. Der deutsche Publizist W. Pfreundschuh hat geschrieben: „Ideologisch und reel wäre er (Nationalismus) aber […] mit der Globalisierung des Kapitals längst überholt. Wer sein Geld international gut anlegen kann fragt nicht mehr nach Nationalität. Als Begriffe einer Konkurrenz verschiedener Staatswelten, die selbst nicht mehr abgeschlossen und klarumschrieben sind, hat Nationalismus kein Sinn.“[5] Bereits daraus würde ich schließen, dass wenn die Wünsche des Euromaidans erfüllt werden und Ukraine eine enge wirtschaftliche Kooperation mit EU hat, es in dem Land gerade keinen Platz für den radikalen Nationalismus gibt.

Also nach einer kurzen Untersuchung würde ich sagen, dass, wenn es oben beschriebenen radikalen Nationalismus in der Ukraine gibt, dann hat er eine untergeordnete und vorübergehende Rolle und wird ganz wenig von der Bevölkerung unterstützt. Ich mag aber denken, dass die Tendenzen der sinkenden Unterstützung des Nationalismus sich fortsetzen. Für mich bedeutet das, dass ich auch in Zukunft nach Hause und zurück fahren könnte.

In dem zweiten Beitrag, der nach der Reise vom AK Osteuropa in die Ukraine folgt, werde ich versuchen, meine zweite Frage zu beantworten: welche ökonomische Ausprägungen könnte ein mögliches Erstarken desNationalismus in der Ukraine haben?

Meine persönliche Leseempfehlung: Die Ukraine-Analysen: kompetente Einschätzungen aktueller politischer, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Entwicklungen in der Ukraine, http://www.laender-analysen.de/ukraine/

[1]Euromaidan – eine große Volksversammlung der in der Ukraine wohnenden Menschen, die auf dem Platz in der Hauptstadt der Ukraine Kyiv ab dem 21.11.2013 bis zum 23.02.2014 stattgefunden hat. Führte zum Sturz des vorherigen Präsidenten V. Janukowitsch und sozialpolitischen Veränderungen in der Ukraine.

[2]Vgl. Ukraine-Analysen. Nr.131. 08.04.2014. S. 4-5. http://www.laender-analysen.de/ukraine/pdf/UkraineAnalysen131.pdf

[3]Vgl. Ukraine-Analysen. Nr.109. 13.11.2012. S. 11. http://www.laender-analysen.de/ukraine/pdf/UkraineAnalysen109.pdf

[4]Vgl. Ukraine-Analysen. Nr.128. 25.ß2.2014. S. 20 http://www.laender-analysen.de/ukraine/pdf/UkraineAnalysen128.pdf ; Vgl. Ukraine-analysen. Nr.125. 13.11.2012. S. 16. http://www.laender-analysen.de/ukraine/pdf/UkraineAnalysen125.pdf

[5] Pfreundschuh W., Nationalismus, http://kulturkritik.net/begriffe/begr_txt.php?lex=nationalismus

Ukrainisches Versammlungsrecht und EMRK – Teil 1

(Yasar Ohle)

Das Ukrainische Versammlungsrecht im Lichte der EMRK

Teil 1: Das ukrainische Versammlungsrecht

Euromaidan, Barrikaden und Zusammenstöße zwischen Polizei und Demonstrant_innen – in der jüngsten Vergangenheit war die Berichterstattung über die Ukraine besonders von Demonstrationen geprägt. Doch was gilt eigentlich rechtlich in Bezug auf Demonstrationen? Wie sind öffentliche Versammlungen in der Ukraine geregelt? Dieser Beitrag soll einen ersten kurzen Überblick über die Versammlungsfreiheit und das Versammlungsrecht in der Ukraine geben.

a. Sowjetzeit

Das Versammlungsrecht in der Ukraine wurde noch in der Sowjetzeit vom Dekret von 1988 geregelt. Danach sollten Versammlungen spätestens 10 Tage vor dem geplanten Datum bei zuständigen lokalen Sowjetbehörden angemeldet werden. Die Genehmigung konnte verweigert werden, wenn der Zweck der Versammlung nicht mit den Zielen und der Verfassung der Sowjetunion bzw. seiner Republiken im Einklang stand.[1]

b. Seit dem Ende der Sowjetunion

Nach dem Ende der Sowjetunion wurde zunächst kein neues Versammlungsrecht erlassen. Vielmehr galten die Gesetze aus der Sowjetzeit fort, bis ihre Regelungsgegenstände durch den neuen, souveränen Gesetzgeber der Ukraine geregelt wurden. Dies wurde von der Werchowna Rada am 12. September 1991 durch die Resolution zur zeitweiligen Anwendung von bestimmten sowjetischen Gesetzen festgelegt.[2]

Der Entwurf über die Verfassung der Ukraine wurde dann am 28. Juni 1996 durch die Werchowna Rada, das Parlament der Ukraine, angenommen. Diese Verfassung ersetzte die noch bis 1995 gültige Verfassung der Ukrainischen SSR.

Artikel 39 der Verfassung regelt die grundrechtlich geschützte Versammlungsfreiheit:

„Die Bürger haben das Recht, sich friedlich und unbewaffnet zu versammeln und Versammlungen, Meetings, Aufzüge und Demonstrationen durchzuführen, deren Durchführung rechtzeitig den Organen der vollziehenden Gewalt oder den Organen der örtlichen Selbstverwaltung mitgeteilt wird.

Eine Beschränkung hinsichtlich der Wahrnehmung dieses Rechts kann durch ein Gericht gemäß dem Gesetz und nur im Interesse der nationalen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung mit dem Ziel der Verhinderung von Unruhen oder Straftaten, im Interesse des Schutzes der Gesundheit der Bevölkerung oder des Schutzes der Rechte und Freiheiten dritter Personen festgelegt werden.“[3]

Die Versammlungsfreiheit darf also nur aus bestimmten, von der Verfassung genannten Gründen, und nur auf Grundlage eines Gesetzes eingeschränkt werden. Ein Gesetz, das eine rechtsstaatliche Grundlage für die oben genannten Beschränkungen dieser Freiheit hätte bilden können (vergleichbar etwa mit dem deutschen Versammlungsgesetz), wurde jedoch auch in der Zeit nach der Verfassungsgebung nie erlassen. Noch immer gilt in der Ukraine das Sowjet-Dekret von 1988.

c. Jüngste Veränderungen im Zusammenhang mit den Maidan-Protesten

Auch heute besteht in der Ukraine kein einfachgesetzliches Versammlungsrecht. Dieses wird lediglich durch die Verfassung geregelt. Allerdings wurde im Zusammenhang mit den Maidan-Protesten am 16. Januar im Schnelldurchlauf ein „Gesetzespaket“ erlassen, wodurch bürgerliche Freiheitsrechte, wie auch die Versammlungsfreiheit, eingeschränkt wurden.[4] So wurden mehr Aspekte von Versammlungen unter einen Genehmigungsvorbehalt gestellt und mögliche Strafen für Teilnehmende solcher Versammlungen erhöht. So sind danach Genehmigungen für Bühnen, Zelte und Lautsprecher erforderlich. Wird keine Genehmigung eingeholt, kann die Versammlung aufgelöst werden und dem Leiter eine Gefängnisstrafe von bis zu 15 Tagen drohen. Für die Teilnahme an einem Konvoi mit mehr als fünf Autos kann der Führerschein bis zu zwei Jahre entzogen werden.[5]

d. Fazit

Es lässt sich feststellen, dass der Bereich der Versammlungen in der Ukraine nicht umfassend geregelt ist und dass die bestehenden Regelungen außerdem sehr einschränkend gestaltet sind. Eine wirkliche Versammlungsfreiheit, die auch die Veranstaltung einer spontanen Versammlung beinhaltet und im Rahmen derer die Demonstrierenden nicht kriminalisiert werden, besteht hingegen nicht. Wie dies vor dem Hintergrund der Europäischen Menschenrechtskonvention aus der menschenrechtlichen Perspektive zu bewerten ist, wird im zweiten Teil des Beitrags dargestellt.