Die Politische Lage (in) der Ukraine. Gespräch mit Dmytro Ostroushko und Viktor Sokolov, Gorshenin Institute Kiew

von Marcel Schmeer

Zweiter Punkt des politischen Programms der Ukraine-Exkursion des AK Osteuropa war ein Treffen mit Dmytro Ostroushko und Viktor Sokolov(First Vice-President) in den Räumlichkeiten des Gorshenin Institute im Zentrum von Kiew. Der Termin sollte in der ursprünglich auf die Bedeutung des ukrainischen Nationalismus für die Demokratisierung des Landes abzielenden Kernfragestellung der Exkursion dazu dienen, den Teilnehmerinnen und Teilnehmern einen Überblick über die politische Lage der Ukraine zwischen der Europäischen Union und Russland aus der Perspektive eines unter anderem auf (ukrainische) Außenpolitik spezialisierten thinktankszu liefern. Die sich aus Frust über die gescheiterte Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und der ukrainischen Regierung im November 2013 konstituierendeEuromaidan-Bewegung, die Ablösung der Regierung Janukowytsch und die in unmittelbarer zeitlicher Nähe erfolgte Annexion der Krim durch russische Truppen sowie das Vorrücken pro-russischer Separatisten im Osten des Landes bildeten dann aber den thematischen Rahmen der Diskussion, die ich im Folgenden zusammenfassen möchte. Zuvor soll jedoch die Arbeit des Gorshenin Institute kurz vorgestellt werden.

Das Institut wurde im Jahr 2006 als politischer think tankgegründet, der sich der Erforschung sozialer und politischer Prozesse „in der Ukraine und der Welt“ widmet, seinen Fokus aber insbesondere auf die außenpolitischen Beziehungen des Landes zu der EU und auf Prozesse europäischer Integration und Demokratisierung legt und hier eine dezidiert pro-europäische Haltung vertritt. Die Organisation versteht sich nach eigener Aussage gleichsamals Kommunikationsplattform für einen demokratischen Dialog zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit und veranstaltet bzw. bietet Raum für Gespräche, Expertendiskussionen und Pressekonferenzen.[1] Neben dem Hauptstadtbüro unterhält das Institut Niederlassungen in Dnepropetrovsk,Kharkov und Odessa. Forschungsschwerpunkte bilden neben politischen, ökonomischen, soziologischen und juristischen Analysen und Politikempfehlungen auch Risikokalkulationen und (politische) Szenarienentwürfe und –prognosen, die durch selbstständige quantitative Erhebungenergänzt werden. Neben vielfältigen wissenschaftlichen oder publizistischen Veröffentlichungen gibt das Institut ein lesenswertes, wöchentlich auf Englisch erscheinendes Bulletin zur aktuellen politischen Lage in der Ukraine heraus, das GorsheninWeekly,[2]welches sich explizit an nicht-ukrainische Leser richtet.

Durch den Besuch im Auslandsbüro der FES in Kiew und die spannenden persönlichen Eindrücke und Gedanken zur aktuellen politischen Lage bereits für den weiteren Verlauf der unterschiedlichen Debatten zumindest andeutungsweise sensibilisiert (vgl. dazu den vorangegangenen Bericht von Alexandra Wößner), entspannte sich die Debatte im Gorshenin Institute nach freundlichem Empfang in den repräsentativen Räumen des Instituts im Wesentlichen um folgende Themenbereiche: 1) die erwarteten Folgen der Wahl Petro Poroschenkos zum Präsidenten der Ukraine sowohl für die Innenpolitik, aber eng damit verwoben auch 2) die neuen außenpolitischen Policy-Entwürfe für die Bekämpfung des russischen Separatismus und Verhandlungen mit der EU und insbesondere Russland.3)Die Bedeutung der allgegenwärtigen Korruption als Herausforderung für den aktuellen politischen Prozess und 4) die Presselandschaft in der Ukraine und ihre Auswirkungen auf das politische Klima.

Die Wahl Poroschenkos zum Präsidenten am 25.5.2014 wurde von den Vertretern des Instituts einhellig begrüßt und der neue Präsident als Pragmatiker bzw. die Wahl als pragmatische Entscheidung charakterisiert. Poroschenko stehe zwar als „Schokoladen-Milliardär“ auf der einen Seite nach wie vor für die „alte“ Ukraine der Oligarchen, habe auf der anderen Seite aber durch persönliche Netzwerke nach Ost und West und sein Image als Mann der Mitte eine deutliche Mehrheit der Ukrainer als Krisenmanager hinter sich vereinen können. An diesem Anspruch müsse er auch gemessen werden. Für Dmytro Ostroushko war es unzweifelhaft, dass der nächste logische innenpolitische Schritt nun eine rasche Neuwahl des Parlaments sein müsse, um die veränderten politischen Machtverhältnisse auch in derWerchowna Rada, der Repräsentation des ukrainischen Volkes, abzubilden. Gleichzeitig wurde ein besonnenes, gleichsam Handlungsstärke unter Beweis stellendes Vorgehen gegen die russischen Separatisten im Osten des Landes erwartet. Die Nachfrage, wie ein solches aussehen könne, wurde aus der heutigen Perspektive ex posteriori sehr zutreffend beantwortet, indem ein Maßnahmen-Mix aus „anti-terroristischen“ (so Ostroushko) Aktivitäten und Militäreinsätzen und diplomatischen Verhandlungen im Dreieck EU-Ukraine-Russland erwartet wurde. Die Diskussion spürte danach der hypothetischen Frage nach, inwiefern sich Russland[3] gesichtswahrend aus dem Osten der Ukraine zurückziehen könne, worauf keine abschließende Antwort gefunden wurde, außer, die Verhandlungen nicht einzustellen. Hier wurde auch die Erwartung an die westlichen Partner formuliert, neben politischer und ökonomischer Unterstützung im Notfall auch über militärische Manöver in den Grenzregionen zur Ukraine oder eine tatsächliche Intervention nachzudenken. Die Krim – so viel soll abschließend zu diesem Punkt gesagt werden – wurde als vorerst für die Ukraine verloren angesehen.

Innenpolitisch wurden zudem weitere vielfältige Erwartungen an den neuen Präsidenten adressiert, die vor allem ökonomische Aspekte betrafen. Die Vertreter des Instituts sahen hier vor allem wirtschaftliche Prosperität und mehr politische und wirtschaftliche Handlungsspielräume für die ukrainischen Regionen als einen Schlüsselfaktor, die ökonomischen Zweifel der Bevölkerung (v.a. in der Ostukraine) gegenüber einer stärkeren EU-Annäherung abzudämpfen. Gleichzeitig müsse aber auch das in der ukrainischen Gesellschaft allgegenwärtige Problem der Korruption stärker angegangen werden, die unsere Gesprächspartner als eine der Hauptmotive für die Euromaidan-Bewegung ausmachten. Dieses Problem sei allerdings – so das nur vorsichtig optimistische Fazit zu diesem Diskussionspunkt – angesichts der tiefgehenden Verwurzelung in der ukrainischen Gesellschaft und darauf eingestellter Alltagspraktiken vor allem angesichts der außenpolitischen Bedrohungslage nur langfristig in den Griff zu kriegen.

Letzter hier zu behandelnder Diskussionspunkt war die Rolle der ukrainischen Presse, die freilich mit der Debatte über Korruption eng verknüpft ist. Viele Medien in der Ukraine befänden sich in privater Hand (hier wohl insbesondere in der Hand von „Oligarchen“) und seien dementsprechend anfällig für Manipulation. Unsere Gesprächspartner sahen in dieser Hinsicht das Grundrecht der freien Meinungsäußerung stark gefährdet und plädierten für eine Umstrukturierung der ukrainischen Presselandschaft durch eine neue Regierung. Auch in diesem Punkt betonten sie die Wichtigkeit der Beziehungen zu den Ländern der Europäischen Union in puncto Wissenstransfer und Unterstützung. Nur mit einer freien und unabhängigen Presse sei eine weitergehende Demokratisierung der Ukraine möglich.

 

Leseempfehlungen

 

[1]     Vgl. Website des Gorshenin Institute, About, Mission, http://gorshenin.eu/about/mission/, abgerufen 16.7.2014.

[2]     Online archiviert und abrufbar unter http://gorshenin.eu/programs/weekly/, abgerufen 16.7.2014.

[3]     Hinweis: der russische Einfluss auf die Separatisten im Osten der Ukraine wurde in der Regel in allen Gesprächen als gegeben angesehen, wenngleich an dieser Stelle darauf hingewiesen werden soll, dass hier freilich die „objektive“ wissenschaftliche Ebene und die subjektiven Wahrnehmungen – auch durch die fast ausschließlich berücksichtigte ukrainische Perspektive – in einem spannungsreichen Verhältnis standen und noch stehen.