Vor kurzem durfte Beata Szydło, polnische Ministerpräsidentin der PIS-Partei mit absoluter Parlamentsmehrheit, auf ihre ersten 100 Tage in diesem Amt zurückblicken. Ob Szydło die verabschiedeten Gesetze, Regierungsvorhaben und entstandenen Spannungen in der Zivilgesellschaft ebenso wahrnimmt wie viele ihrer Landleute, darf dabei bezweifelt werden.
Ein wohl beispielloses Tempo hinsichtlich der Verschiebungen der Machtstrukturen zeichnet die ersten Monate ihrer Amtszeit ebenso aus, wie die bewusst lancierten Beschwichtigungen, dass die aktuellen politischen Geschehnisse sich absolut im Bereich dessen bewegen, was die polnische Verfassung sowie europäisches Recht als legitim ausweisen.
Die praktische Entmachtung des polnischen Verfassungsgerichts sowie der verstärkte Einfluss auf die öffentlich-rechtlichen Medien stellen gerade für Europäer_Innen, die außerhalb Polens leben die wohl einschlägigsten Beispiele in jüngster Zeit für die Berichterstattung über Geschehnisse in Polen in den eigenen Medien dar.
Dass sich auch die Vorgängerregierungen unter der heute oppositionellen PO-Partei an diesen beiden, für die polnische wie auch andere Demokratien unabdingbaren Grundpfeilern versucht hat, wird bei den aktuellen Diskussionen und Konfrontationen mit Polen, die sich der PIS-Doktrin gegenüber verpflichtet fühlen, immer gerne aufgeführt. Eine andere politische Agenda hinsichtlich der EU und den anderen Mitgliedsstaaten mag dabei wohl auch für die wenig vorhandene bzw. beachtete Berichterstattung im Ausland verantwortliche gewesen sein. Nichtsdestotrotz ist das Verhalten der Vorgängerregierungen in keiner Weise mit dem jetzigen Verhalten der PIS-Regierung gleichzusetzen. So wurde gerade hinsichtlich des Verfassungsgerichts dessen Unabhängigkeit gegenüber Regierung und Parlament bewahrt.
Ganz anders verhält es sich bei dem jetzigen politischen wie auch juristischen Schlagabtausch zwischen dem Verfassungsgericht und der polnischen Regierung. Neben den Diskussionen um die Einleitung des Rechtsstaatsmechanismus durch die EU wurden vergangene Woche ebenfalls die Vorgänge durch die vom Europarat eingesetzte Venedig-Kommission kritisiert. Ausgangspunkt der dortigen Kritik sind vor allem die verabschiedeten Verfahrensregeln des Verfassungsgerichts, die eine nachhaltige Lähmung verursachen.
Inwiefern der Schlagabtausch letztlich ein zufriedenstellendes Ergebnis hervorrufen kann, wird abzuwarten sein. Der Verstoß der Verfassung durch die beschlossenen Gesetze, die das Verfassungsgericht betrafen und die vom Verfassungsgericht vergangene Woche zurückgewiesen worden sind, werden von der Regierung weiterhin als illegitim nach den neuen Gesetzen und somit als widerrechtlich betrachtet.
Das Jarosław Kaczyński, als eigentlicher Urheber der verabschiedeten kontroversen Gesetze der vergangen Monate, der größte Gewinner dieser Staatskrise ist, wird wohl nicht bestritten werden können. Als einfacher Abgeordneter, hat er sich als Strippenzieher im Hintergrund zur mächtigsten Person Polens instrumentalisiert, die jede wichtige Personalie als auch Entscheidung der polnischen Regierung als auch derer absoluten Parlamentsmehrheit zu beeinflussen weiß. Nach dem großen Einfluss, die er nun noch auf die öffentlich-rechtlichen Medien aufzuweisen hat, wird die weitere Entwicklung um die Rolle des Verfassungsgerichts mehr denn je gespannt zu verfolgen sein.
Abzuwarten bleibt dabei vor allem, ob er tatsächlich einen Teil der parlamentarischen Opposition einspannen wird, um eine Verfassungsänderung und einen Kompromiss zu erzielen, der die PIS-Partei gegebenenfalls als Lösung und nicht ihr Handeln als Ursache der Krise inszenieren könnte.
Die polnische Ministerpräsidentin hat bei jeder der vergangenen, größeren Demonstrationen die das Bürgerkomitee zur Verteidigung der Demokratie (KOD) initialisiert hat bewusst betont, dass die Demokratie nicht gefährdet sei und jeder Pole und jede Polin von Ihrem Recht zur Demonstration Gebrauch machen könne.
Gerade solche Beschwichtigungsversuche von PIS-Befürworter_Innen könnten den vermeintlich größten Schaden hervorrufen. Polen wird sich damit auseinandersetzen müssen, dass selbst eine theoretische Einschränkung demokratischer Grundideen und Ideale einen realen Charakter aufweist, der jederzeit in ein reales Handeln durch die Staatsgewalt umschwenken kann. Die Gewaltenteilung in einer demokratischen Gesellschaft stellt eine unabdingbare Grundvoraussetzung dar.
Die anderen Europäischen Staaten sollten die Geschehnisse in Polen kritisch und konstruktiv betrachten und sich auch offene Kritik nicht verbieten lassen. Das Rollenbild, dessen sich viele Rhetoriker_Innen aus Regierungskreisen bedienen, wonach Kritik von anderen europäischen Staaten als Angriff auf die polnische Unabhängigkeit zu werten ist, sollte nicht unnötigerweise Vorschub geleistet werden. Nichtsdestotrotz ist es für viele Menschen in Polen ein Trost und eine Stütze, dass sie mit ihren Protesten gegenüber der Regierung nicht alleine stehen. Eine Gradwanderung zwischen konstruktivem Begleiten und Ermahnen gegenüber einem erhobenen Zeigefinger wird dabei allerdings im Interesse der gemeinsamen Vorstellungen und Interessensbekundungen stets zu beachten sein.
Der folgende Beitrag beleuchtet ausgewählte, durch nationalistische Vorstellungen geprägte Elemte der ukrainischen Verfassung.
Dabei wird der Begriff Nationalismus als „Ideensystem [verstanden,] das der Schaffung, Mobilisierung und Integration eines größeren Solidarverbands (genannt Nation)“, in erster Linie aber der Legitimierung politischer Herrschaft dient[1] und auf bestimmten Vorstellungen aufbaut, die im Rahmen der jeweiligen Beschreibung im Folgenden benannt werden. Ein weiterer Teil des Beitrags beschäftigt sich mit der Einflussnahme durch (explizit) nationalistische Kräfte auf die Verfassung.
Der Begriff „Nationalismus“ wird im Zusammenhang mit den aktuellen Geschehnissen in der Ukraine häufig verwendet. Er scheint sich hervorragend zur Lagerbildung und als Kampfbegriff zu eignen, aber auch Beobachter von außen teilen die ukrainische Welt in „ukrainische Nationalisten“ und „russische Separatisten“ ein.
Mit Blick auf die eben beschriebene aktuelle Gemengelage sei bereits an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass es unter Berücksichtung der europäischen Verfassungskultur kaum überrascht, dass auch die Ukraine in ihrem Transformationsprozess der 90er Jahre auf nationalistische Ideen Bezug nahm. Aus eruopäischer Perspektive ist die sozialintegrative und politik-/staatslegitimierende Kraft des Nationalismus aufgrund der Entfaltungsmöglichkeiten von anderen, postnationalen Legitimationsgrundlagen zwar in vielen Bereichen eingeschränkt worden – bedeutungslos ist sie aber noch lange nicht.[2] In diesem Kontext sind auch die folgenden Betrachtungen zu verstehen, die also die eingangs erwähnten Vorwürfe im Zusammenhang mit den aktuellen Geschehnissen weder stützen noch zu widerlegen vermögen.
Die ausgewählten
I. Die Nation als Grundlage des Staates
1. Die Nation führt zum Staat
Der Nationalismus sieht in der Nation die Grundlage und Legitimaitonsbasis des Staates. Mit anderen Worten: “Der Staat muss auf seiner Legitimierung durch den Willen der Nation beruhen.”[3]
In der Präambel heißt es zur Verabschiedung der Verfassung, dass diese auf
„der Jahrhunderte alten Geschichte ukrainischer Staatswerdung und auf dem Selbstbestimmungsrecht, das die ukrainische Nation verwirklicht,“
Die “Legitimationskette” des Staates führt so von der Existenz einer ukrainischen Nation direkt zum Selbstbestimmungsrecht derselben, wobei durch einen Rekurs auf die Geschichte sowohl das Bestehen der Nation allgemein als auch speziell des Selbstbestimmungsrechts (durch die Bezugnahme auf die Geschichte der Staatswerdung) dargelegt wird. Das Selbstbestimmungsrecht wiederum wird durch die Staatswerdung verwirklicht.
2. Der Staat vollendet die Nation
Das nationalistische Ideensystem beinhaltet die Vorstellung, die Nation bestehe seit „archaischen Uhrzeiten“.[4] Diese wird dem vorgestellten Legitimationsansatz der Präambel der UV zugrunde gelegt, wie bereits der Rückgriff auf die Geschichte zeigt. Ab wann und inwieweit von einer “spezifisch ukrainischen Nation”[5] in der Geschichte gesprochen werden kann (an dieser Stelle sei auf die nicht endende Diskussion um das Erbe der Kiewer Rus verwiesen), ist dabei völlig unerheblich. Anders als z.B. die ungarische Verfassung wird kein konreter Anknüpfungspunkt in der Geschichte gewählt. Die Verfassung “begnügt” sich mit der Feststellung, dass die Geschichte der ukrainischen Nation an sich besteht. Konkreter wird erst Art. 20 UV, der die Staatssymbole an die Herrschafftszeichen von Volodymyr dem großen und historischer Kosakenverbände anlehnt. Verbunden ist damit auch die Wertschätzung, die Überhöhung der Nation, ausgedrückt durch den Stellenwert, den die Präambel ihr einräumt.
Das Selbstbestimmungsrecht, dass dieser Nation als historischer, d.h. ihrerseits durch Tradition legitimierter, zukommt, berechtigt dann konsequenterweise auch zur Staatswerdung.
Daran anknüpfend enthält Art. 11 UV folgenden Programmsatz:
„Der Staat soll die Konsolidierung und Entwicklung der ukrainischen Nation, ihres historischen Bewusstseins, ihrer Traditionen und Kultur sowie die Entwicklung der ethnischen, kulturellen,, sprachlichen und religiösen Identität aller indigenen Völker und nationalen Minderheiten der Ukraine fördern.“
Der Begriff der Konsolidierung enthält die Vorstellung der Wiederherstellung bzw. der Vollendung der Nation. Diese ist aus Sicht der Verfassung durch die Existenz des ukrainischen Staates allein noch nicht vollzogen.
Die ukrainische Nation wird aus Sicht der UV also nicht als ein bestehendes Gebilde begriffen, sondern viel mehr als Ziel, als Ideal, das noch nicht erreicht ist. Nur so kann Art. 11 UV als integrative Staatszielbestimmung wirken. Hier tritt die nationalistische Vorstellung der Wiedererweckung der Nation, ihrer Wiederbelebung oder eben wie hier ihrer Vollendung zutage. Diese Vorstellung eignet sich, um Diskontinuitäten in der Staatswerdung, aber auch im Bestehen der Nation selbst “traditionskonform” zu überbrücken. Die Nation wird so mehr Zielutopie denn Bewahrungsidelogie, die Anknüpfungspunkte in der Geschichte können beliebiger und vor allem selektiver gewählt werden, die Existenz der Nation erfordert keine tatsächliche Kontinuität im Bestehen, da sie ja immer als noch zu vollende Idee existierte. Der Ausgangspunkt, das erstmalige Auftreten, wird zu einem frühen Zeitpunkt verortet. Selbst der Einwand, dass vor der Staatswerdung keine (vollendete) Nation bestand, kann das Legitimationskonstrukt nicht erschüttern. Die “ewige Substanz” der Nation wird durch einen (durch die Verfassung nicht näher definierten) Startpunkt in der Geschichte im Ergebnis ausreichend dargelegt.
II. Nation oder Volk – wer trägt den Staat?
Die Verfassung definiert das ukrainische Volk in ihrer Präambel als Einheit der “ukrainischen Bürger aller Nationalitäten”.
Spätestens Art. 11 UV (s.o.) macht aber deutlich, dass es innerhalb und neben der ukrainischen Bevölkerung, ihrer Bürgerschaft gleichwelcher Nation, eine staatstragende ukrainische Nation geben soll, eine Gesamtheit von Ukrainern, die sich unabhängig von der Staatszugehörigkeit definiert. Diese ukrainische Nation wird durch die Gegenübersetllung mit anderen Teilen des Staatsvolkes “unübersehbar herausgestellt”.[6]
Der Anspruch, einen Staat zu schaffen, der sich aus einer ukrainischen Nation heraus entwickelt, tritt auch in Art. 12 UV deutlich hervor:
“Die Ukraine soll die Erfüllung der nationalen, kulturellen und sprachlichen Bedürfnisse von Ukrainern gewährleisten, die außerhalb der Staatsgrenzen leben.”
Hier wird direkt auf ein kulturell und sprachlich zu definierendes ukrainisches Volk abgestellt, dass sich nicht über den Umweg der Staatsbürgerschaft bildet, sondern ohne staatliches Zutun von vornherein existiert (“natürliche Substanz” der Nation). Der Fürsorgeanspruch des Art. 12 UV entspricht der Vorstellung, ein Nationalstaat vertrete die Interessen der Nation, nicht nur die seiner Bürger. Dieser Fürsorgeanspruch ist in der nationalistischen Legitimationskette notwendig, den nur so wird der ukrainische Staat durch Vertretung der gesamten ukrainischen Nation, durch den (mutmaßlichen) Willen dieser Nation, gerechtfertigt.
Der Formulierung der Präambel (“ukrainische Bürger aller Nationalitäten”) ist anzusehen, dass sie nicht mehr ist als eine Kompromissformel, die bemüht ist, die Position eines Nationalstaats mit der eines Mehrvölkerstaats zu vereinen. Im verfassungsgebenden Prozess standen sich als Vorschläge “das Volk der Ukraine” und “das ukrainische Volk” gegenüber.[7]
Von (überraschender ?) Aktualität ist folgende Analyse von Oliver Vorndran:
“Die Formulierung [der] Verfassung entspricht der ukrainischen Verfassungswirklichkeit, die ien Paradox der ukrainischen Nation widerspiegelt: Die Ukraine kann gegenüber Rußland ihre Existenzberechtigung am einfachsten aus der ethnischen und kulturellen Eigenständigkeit des ukrainischen Volkes ableiten, verfolgte aber stets eine andere Ethnien integrierende Nationalitäten- und Nationalstaatspolitik. Die gefundene Formel drückt auch aus, daß es in der Frage keine voluntaristische “Lösung” geben kann – die ein oder andere Variante bevorzugend – ohne die Einheit des Staates zu gefährden. Gelingt es dem ukrainischen Volk in Anerkennung dieser Paradoxie miteinander zu leben, dann kann diese additive Definition der ukrainischen Nation durchaus zu einer Erfolgsformel werden.”[8]
III. Kulturnationalismus und Sprache
Artikel 10 der Verfassung legt Ukrainisch als Staatssprache fest und enthält zugleich die Gewährleistungspflicht des Staates, die Entwicklung und Funktionsfähigkeit der ukrainischen Sprache auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens auf dem gesamten Staatsgebiet zu gewährleisten.
Die UV verwendet zur Beschreibung der die Nation konstituierenden Elemente ausschlich kulturelle (Sprache, Geschichte), nicht aber eine ethnische Komponente.[9] Die Legitimation wird auf die Kultur der Nation gestützt, umso wichtiger ist dadurch das Alleinstellungsmerkmal der Sprache für den Staat.
IV. Einfluss nationalistischer Kräfte – „nur Symbolik?“
Die Bemühung um Ausgleich zwischen nationalistischen und linken Kräften ist auch an anderer Stelle anzutreffen.
Ein Hauptaugenmerk der nationalistischen Kräfte im verfassungsgebenden Prozess lag auf den Staatssymbolen. Diese sollten nicht durch einfaches Gesetz, sondern durch die Verfassung selbst festgelegt werden. Dem gegenüber wünschte sich das linke Lager eine konkrete Beschreibung durch einfaches Gesetz.
Ergebnis ist Art. 20 UV. Staatssymbole sind Nationalflagge, Nationalwappen und Hymne. Farbe und Gestaltung der Flagge regelt Absatz II. Die übrigen Symbole werden nicht bis ins Detail geregelt. Ausgangspunkt ist das Staatswappen von Volodymyr dem Großen (Dreizack) und das Wappen der Saporoger Kosaken, die Melodie der Hymne wird vorgegeben. Die gewählten Symbole können als Beleg der Einheit des Staates mit der ukrainischen Nation verstanden werden, was die große Bedeutung der Festlegung und damit auch der Frage, ob durch Verfassung oder einfaches Gesetz, aus Sicht der Nationalisten erklärt.
Der Text der Hymne ebenso wie die konkrete Ausgestaltung der Wappen dagegen wird dem „einfachen“ Gesetzgeber erlassen – allerdings mit 2/3 Mehrheit. Insoweit lässt sich tatsächlich feststellen, dass die Regelung hauptsächlich “die Anschauung der Nationalisten reflektiert, aber dennoch der Linken entgegenkommt”[10]. Im Ergebnis ist dieses Entgegenkommen durch das qualifizierte Quorum und die Festlegung der Grundlagen der Staatssymbole in vorgenannter, die Einheit von Nation und Staat darstellenden Weise wohl eher als symbolischer zu bezeichnen.
V. Schlussbemerkung
Die Verfassung der Ukraine ist als vom Nationalismus geprägt zu bezeichnen. Dabei ist die Zerissenheit zwischen National- und Mehrvölkerstaat bzw. die kompromissartige Definition der Nation innerhalb der Verfassung ein Merkmal, das sie von den Verfassungen „klassischer“ Nationalstaaten abhebt.
[1] Entlehnt der Kurzdefinition bei Wehler, Nationalismus, Geschichte, Formen, Folgen, 3. Auflage 2007, S. 13.
[2]Von der Möglichkeit einer globalen Renaissance spricht Salzborn, in: Salzborn (Hg.), Staat und Nation, 2011, S. 11.
[3] Wehler, Fn. 1, S. 36.
[4] Wehler, Fn. 1, S. 36.
[5] Vorndran, Die Entstehung der ukrainischen Verfassung, 1. Auflage 2000, S. 321.
[6] Vorndran, Fn. 4, S. 321.
[7] Vorndran, Fn. 4, S. 297.
[8] Vorndran, Fn. 4, S. 297.
[9] Vorndran, Fn. 4, S. 322.
[10] Zum gesamten Abschnitt vgl. Vorndran, Fn. 4, S. 299.
Die Verfassung des unabhängigen Mazedoniens wurde am 17. November 1991 mit einer knappen Mehrheit von 93 zu 86 Stimmen vom ersten demokratisch gewählten Parlament verabschiedet. Die neue mazedonische Nation startete mit einem ersten Konflikt zwischen mazedonischen und albanischen Parlamentariern. Letztere befunden die albanischen Standpunkte nicht ausreichend in der Verfassung berücksichtigt, so dass sie geschlossen gegen sie stimmten. Die albanischen Abgeordneten hatten mehr Rechte für ihre Volksangehörigen gefordert.
Der Rechtsstaat und eine liberale Demokratie finden Verankerung in der Verfassung und sie enthält alle Merkmale einer modernen Staatsverfassung, garantiert das Privateigentum, gibt Hinweise auf ein Mehrparteiensystem und die Gewaltenteilung. Auch in Mazedonien geht alle Staatsgewalt vom Volke aus.
Staatlichen Souveränität
Bereits zu Beginn der Verfassung, in Artikel 1, ist die staatliche Souveränität Mazedoniens festgeschrieben. Der Artikel dient zum einen als Existenzgrundlage des unabhängigen Mazedoniens und als verfassungsrechtliche Grundlage, von außen kommende Angriffe gegen Mazedonien abzuwehren. Zu nennen sind hier vor allem die Konflikte Mazedoniens mit Griechenland, Serbien und Bulgarien über Geschichte, Name, Kultur, Nation, Sprache und Staatssymbole.
Andererseits ist Artikel 1 Schutz für innerstaatliche Zerwürfnisse, insbesondere im Hinblick auf den Konflikt zwischen Mazedoniern und Albanern. Dennoch schrieb man Mazedonien als einen Zentralstaat fest, als, wie von albanischen Politikern gefordert, einen Bundesstaat zu formen.
Demokratie
Das Volk von Mazedonien ist Träger der inneren Souveränität und einzige Quelle der Staatsgewalt. Hier wird nicht unterschieden zwischen Mazedoniern, Albanern und Angehörigen anderer ethnischen Minderheiten, sondern gemeint ist die multinationale Bevölkerung der Republik.
Mazedonien ist eine repräsentative Demokratie, denn genau wie in Deutschland, geschieht die Ausübung der Staatsgewalt durch demokratisch legitimierte Vertreter und (das ist anders, als in Deutschland) unmittelbar durch Volksentscheide.
Das Volk wählt zum einen alle 5 Jahre den Präsidenten der Republik und zum anderen alle vier Jahre die 120-140 Abgeordneten des mazedonischen Parlaments. Eine zweite Kammer, wie der deutsche Bundesrat oder der polnische Senat, gibt es nicht. Dies ist im Hinblick auf die interethnische Konflikte besonders bemerkenswert. Während das bevölkerungsmäßig weitestgehend homogene Polen, das wie Mazedonien ein Zentralstaat ist, eine solche Regionalrepräsentation kennt, verzichtet Mazedonien auf eine Kammer, die Bedürfnisse von Ethnien oder Regionen besser vertreten könnte.
Mazedonien ist trotz Direktwahl des Präsidenten nicht als Präsidialdemokratie ausgestaltet, sondern eine parlamentarische Demokratie. Die Kompetenzen des Präsidenten beschränken sich weitestgehend auf repräsentative Aufgaben. Er ist zwar das Staatsoberhaupt und Oberbefehlshaber der mazedonischen Streitkräfte, diese Kompetenzen bezeichnen aber nur die „formale Macht“ des Präsidenten. Eine für Präsidialdemokratien typische Einflussnahmemöglichkeit auf die Regierungsbildung existiert in Mazedonien nicht.
Wie in Deutschland sind Wahlen in Mazedonien frei, allgemein, unmittelbar, gleich und geheim.
Minderheitenschutz als Verfassungsaufgabe?
Schon die Präambel zu Beginn der Verfassung betont, dass die verschiedenen, auf dem Gebiet Mazedoniens lebenden Völker die Verantwortung für die Gegenwart und Zukunft ihres mazedonischen Vaterlands übernommen haben. Damit wird schon in der Einleitung der Verfassung die multiethnische Zusammensetzung hervorgehoben und der Auftrag an alle Ethnien erteilt, Verantwortung in der Republik zu übernehmen.
Diese Fassung der Präambel wurde allerdings erst später durch eine Verfassungsänderung eingefügt. Vorher war sie so gefasst, dass sie die mazedonische Mehrheit zum friedlichen und gleichberechtigten Zusammenleben mit den Minderheiten aufrief. Eine ganz klare Bevorzugung der Mazedonier, die über die die Minderheiten zu herrschen hatten.
Die Äußerung seiner nationalen Zugehörigkeit und das Diskriminierungsverbot deswegen sind weitere Pfeiler des verfassungsmäßígen Minderheitenschutzes.
Aussagen der Verfassung zur Amtssprache
Laut Artikel 7 der Verfassung ist das Mazedonische und die kyrillische Schrift die Amtssprache der Republik. Lokal darf auch der Gebrauch anderer Sprachen zugelassen werden. Das Verfassungsgericht Mazedoniens kippte in einigen Entscheidungen immer wieder die mazedonienweite Zulassung der Minderheitssprachen, wie beispielsweise die Mehrsprachigkeit der Formulare für die Volkszählung 1994. Nur in den Regionen, wo eine Mehrheit oder eine wesentliche Zahl einer Ethnie lebt, darf nach dem „Amtssprachenartikel“ die Sprache dieser Ethnien verwendet werden.
Erst in einer späteren Verfassungsänderung wurde der Zusatz eingefügt, dass als weitere Amtssprache zugelassen werden kann, welche von mindestens 20% der mazedonischen Bevölkerung gesprochen wird. Da der Anteil an Albanern im Jahre 2003 bei 25,17% lag, gilt heute Albanisch neben Mazedonisch als Amtssprache der Republik.
Stellungnahme
Die mazedonische Verfassung ist eine moderne, demokratische und rechtsstaatliche Verfassung, betont religiös neutral und den Minderheitenschutz in den Vordergrund stellend. Die Ausgestaltung deutet heute nicht mehr auf eine Hegemonie der mazedonischen Mehrheitsbevölkerung hin. In den letzten Jahren hat sich viel getan, was die Gleichstellung der verschiedenen Ethnien betrifft.
Bemerkenswert ist vor allem der Eingriff des Verfassungsgericht, das des öfteren Entscheidungen traf, die zu Ungunsten der Minderheiten waren. Dies lässt sich vermutlich mit der ursprünglichen Fassung der mazedonischen Verfassung erklären, die eine starke Dominanz der mazedonischen Mehrheitsbevölkerung vorsah. Diese Entscheidungen trugen oftmals allerdings auch zu Verfassungsänderungen bei.
Heute wird insbesondere die Gleichstellung und gemeinsame Verantwortung aller Ethnien, die in der Präambel und zahlreichen Artikeln direkt oder indirekt deutlich wird, vom Verfassungsgericht zur Auslegung der Verfassung herangezogen.
Auf dem Papier scheint die Gleichberechtigung aller Ethnien in Mazedonien geschafft. Wie weit dies der Wirklichkeit entspricht oder doch nur Illusion ist, davon müssen wir uns in Mazedonien ein eigenes Bild machen.
Quelle: Goran Čobanov, Verfassungsgerichtsbarkeit und Verfassungsrechtsentwicklung in Makedonien, Marburg 2009, Tectum Verlag
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