(Yasar Ohle)
Das Ukrainische Versammlungsrecht im Lichte der EMRK
Teil 1: Das ukrainische Versammlungsrecht
Euromaidan, Barrikaden und Zusammenstöße zwischen Polizei und Demonstrant_innen – in der jüngsten Vergangenheit war die Berichterstattung über die Ukraine besonders von Demonstrationen geprägt. Doch was gilt eigentlich rechtlich in Bezug auf Demonstrationen? Wie sind öffentliche Versammlungen in der Ukraine geregelt? Dieser Beitrag soll einen ersten kurzen Überblick über die Versammlungsfreiheit und das Versammlungsrecht in der Ukraine geben.
a. Sowjetzeit
Das Versammlungsrecht in der Ukraine wurde noch in der Sowjetzeit vom Dekret von 1988 geregelt. Danach sollten Versammlungen spätestens 10 Tage vor dem geplanten Datum bei zuständigen lokalen Sowjetbehörden angemeldet werden. Die Genehmigung konnte verweigert werden, wenn der Zweck der Versammlung nicht mit den Zielen und der Verfassung der Sowjetunion bzw. seiner Republiken im Einklang stand.[1]
b. Seit dem Ende der Sowjetunion
Nach dem Ende der Sowjetunion wurde zunächst kein neues Versammlungsrecht erlassen. Vielmehr galten die Gesetze aus der Sowjetzeit fort, bis ihre Regelungsgegenstände durch den neuen, souveränen Gesetzgeber der Ukraine geregelt wurden. Dies wurde von der Werchowna Rada am 12. September 1991 durch die Resolution zur zeitweiligen Anwendung von bestimmten sowjetischen Gesetzen festgelegt.[2]
Der Entwurf über die Verfassung der Ukraine wurde dann am 28. Juni 1996 durch die Werchowna Rada, das Parlament der Ukraine, angenommen. Diese Verfassung ersetzte die noch bis 1995 gültige Verfassung der Ukrainischen SSR.
Artikel 39 der Verfassung regelt die grundrechtlich geschützte Versammlungsfreiheit:
„Die Bürger haben das Recht, sich friedlich und unbewaffnet zu versammeln und Versammlungen, Meetings, Aufzüge und Demonstrationen durchzuführen, deren Durchführung rechtzeitig den Organen der vollziehenden Gewalt oder den Organen der örtlichen Selbstverwaltung mitgeteilt wird.
Eine Beschränkung hinsichtlich der Wahrnehmung dieses Rechts kann durch ein Gericht gemäß dem Gesetz und nur im Interesse der nationalen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung mit dem Ziel der Verhinderung von Unruhen oder Straftaten, im Interesse des Schutzes der Gesundheit der Bevölkerung oder des Schutzes der Rechte und Freiheiten dritter Personen festgelegt werden.“[3]
Die Versammlungsfreiheit darf also nur aus bestimmten, von der Verfassung genannten Gründen, und nur auf Grundlage eines Gesetzes eingeschränkt werden. Ein Gesetz, das eine rechtsstaatliche Grundlage für die oben genannten Beschränkungen dieser Freiheit hätte bilden können (vergleichbar etwa mit dem deutschen Versammlungsgesetz), wurde jedoch auch in der Zeit nach der Verfassungsgebung nie erlassen. Noch immer gilt in der Ukraine das Sowjet-Dekret von 1988.
c. Jüngste Veränderungen im Zusammenhang mit den Maidan-Protesten
Auch heute besteht in der Ukraine kein einfachgesetzliches Versammlungsrecht. Dieses wird lediglich durch die Verfassung geregelt. Allerdings wurde im Zusammenhang mit den Maidan-Protesten am 16. Januar im Schnelldurchlauf ein „Gesetzespaket“ erlassen, wodurch bürgerliche Freiheitsrechte, wie auch die Versammlungsfreiheit, eingeschränkt wurden.[4] So wurden mehr Aspekte von Versammlungen unter einen Genehmigungsvorbehalt gestellt und mögliche Strafen für Teilnehmende solcher Versammlungen erhöht. So sind danach Genehmigungen für Bühnen, Zelte und Lautsprecher erforderlich. Wird keine Genehmigung eingeholt, kann die Versammlung aufgelöst werden und dem Leiter eine Gefängnisstrafe von bis zu 15 Tagen drohen. Für die Teilnahme an einem Konvoi mit mehr als fünf Autos kann der Führerschein bis zu zwei Jahre entzogen werden.[5]
d. Fazit
Es lässt sich feststellen, dass der Bereich der Versammlungen in der Ukraine nicht umfassend geregelt ist und dass die bestehenden Regelungen außerdem sehr einschränkend gestaltet sind. Eine wirkliche Versammlungsfreiheit, die auch die Veranstaltung einer spontanen Versammlung beinhaltet und im Rahmen derer die Demonstrierenden nicht kriminalisiert werden, besteht hingegen nicht. Wie dies vor dem Hintergrund der Europäischen Menschenrechtskonvention aus der menschenrechtlichen Perspektive zu bewerten ist, wird im zweiten Teil des Beitrags dargestellt.