(Dmitri Stratievski, FU Berlin)
Einst zweitwichtigste Unionsrepublik der UdSSR, heute zweitgrößter Staat Europas. Doch wie bekannt ist die Ukraine? Politisch Interessierte können außer Tschernobyl, Klitschko und Schewtschenko (nicht den Nationaldichter, sondern den Fußballspieler) noch ein paar Spitzenpolitiker nennen. Kaum bekannt ist die lange sozialdemokratische Tradition des Landes, die mehr als 100 Jahre zurückreicht.
Die Perestroika in der Sowjetunion eröffnete breite Möglichkeiten für die Mehrparteiligkeit in der (immer noch) Sowjetukraine. Die ukrainische Gesellschaft übernahm fast die ganze westliche Parteipalette. Dazu gehörte auch die Sozialdemokratie. Bereits 1990 fanden Gründungsparteitage von zwei Sozialdemokratischen Parteien, OSDPU und SDPU statt, die von Anfang an in starker Konkurrenz zueinander standen. 1991 kam noch die dritte dazu – Demokratische Partei der Ukraine DPU, die sich selbst als sozialdemokratisch definierte.
Nach der Perestroika: Ost- oder Westorientierung?
Eine wichtige Rolle spielte dabei eine klassische ukrainische Konfliktlinie: Streit um Ost- oder Westorientierung des Landes. In den ersten Unabhängigkeitsjahren unterstützten unterschiedliche sozialdemokratische Parteien liberalkonservative Präsidentschaftskandidaten, wie Wjatscheslaw Tschornowil (pro-westlich) und Leonid Kutschma (pro-russisch).
Auch die führenden Personen der ersten ukrainischen sozialdemokratischen Garde riefen eigene Parteiprojekte ins Leben bzw. schlossen sich anderen nichtsozialdemokratischen Parteien an und wurden erfolgreiche Geschäftsleute. Als Beispiele sind Wasilij Onopenko, später Justizminister unter Kutschma, danach Mitglied der Timoschenko-Partei und heute Vorsitzender des Oberverwaltungsgerichtes der Ukraine, Wiktor Baloga, später enger Juschtschenko-Berater und Leiter seiner Präsidentenverwaltung, oder Petr Poroschenko, „Schokoladekönig“, Sponsor der „Orangen Revolution“, rechte Hand von Juschtschenko und danach Außenminister, zu nennen.
Die Sozialdemokratie benutzte man in der Ukraine nicht nur als Karrieresprungbrett, sondern auch als Nische für die abgewählten Spitzenpolitiker. Leonid Krawtschuk, vormals Ideologiesekretär der sowjetukrainischen KP und Staatspräsident 1991-1994, verlor als nationalkonservativer Kandidat die Präsidentschaftswahlen 1994 und wurde nach dem Scheitern der eigenen Bürgerbewegung „Verständigung“ formelles Mitglied der Sozialdemokratischen Partei. 1996 unternahmen zwei ukrainische Geschäftsleute, Wiktor Medwedtschuk und Grigorij Surkis, den Versuch, eine einflussreiche Sozialdemokratische Partei der Ukraine (vereinigt) SDPU (o) ins Leben zu rufen.
Die Wähler haben sie aber als „Oligarchenpartei“ bezeichnet und mit den schlechten Wahlergebnissen abgestraft: 1998: 4,01 Prozent der Wählerstimmen, 2002: 6,27 Prozent der Stimmen. Die SDPU (o) wurde Satellitenpartei von Kutschma und degradierte zu einer stark antiwestlichen programmatiklosen Kraft. 2006 bekam die Partei 1,01 Prozent der Wählerstimmen und ist im Parlament nicht mehr vertreten. Die „alten“ Anhänger der sozialdemokratischen Idee in der Ukraine aus den Jahren 1991-1995 wie Michail Jakowlewitsch und Jurij Sbitnew wurden als Verlierer von der politischen Bühne der Ukraine vertrieben und sind heute kaum bekannt.
Konfliktlinie Arbeit gegen Kapital: Ukrainische Sozialdemokratie heute
Nach 1991 ist das sozialdemokratische Konzept in der souveränen Ukraine instabilen Institutionen, Ideenlosigkeit und gesellschaftlichen Spannungsfelder zum Opfer gefallen. Viele Politiker im Lande verwenden in ihren Reden und Parteiprogramme sozialdemokratische Elemente und Versprechungen. In der Ukraine gibt es heute freilich keine nennenswerte politische Kraft, die sozialdemokratische Werte konsequent teilt und vertritt.
Das linke Lager besteht aus drei kommunistischen und sozialistischen Parteien, die zunehmend an Bedeutung verlieren. Selbst die politische Färbung „links“ ist nicht salonfähig und wird als altkommunistisch abgestempelt. Die ganze politische Oberschicht ist mit unbedeutenden Ausnahmen konservativ oder liberalkonservativ.
Eine überwältigende Mehrheit der ukrainischen Parteien nennt sich „zentristisch“ und bemüht sich, „catch-all party“ zu werden. Andererseits ist das Land mit Problemen konfrontiert, die gerade Sozialdemokraten traditionell thematisieren bzw. zu deren Bekämpfung eigene Rezepte anbieten: Armut, große Kluft zwischen Armen und Reichen, fehlende Gleichbehandlung und Gleichberechtigung, schwache Gewerkschaften, ungleiche Position von Frauen, Rentnern und Minderheitsgruppen in der Gesellschaft etc. Die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung bilden Arbeiter, Angestellte und Bauern.
Es existieren damit mehrere gesellschaftspolitische Voraussetzungen für den Aufstieg der Sozialdemokraten zum einflussreichen politischen Akteur. Hier sehe ich ein großes Potential. Der Erfolg der Sozialdemokratie im Lande käme aber meines Erachtens erst nach der Konsolidierung der Nation bzw. Festsetzung allgemein anerkannter außen- und innenpolitischer Prioritäten und darauf bezogene Abschwächung von heutzutage hoch diskussionsbedürftigen Themen wie Sprache, Verhältnis zu Russland und zum Westen, Religion usw.
Im politischen Duell entlang klassischer Konfliktlinien wie zum Beispiel Arbeit gegen Kapital haben Sozialdemokraten gute Chancen. Eine zweite relevante Voraussetzung für die ukrainische sozialdemokratische Renaissance soll die strukturelle Reform des ukrainischen Parteiensystem werden. Eine vom Großkapital gegründete und gesteuerte politische Partei kann die sozialdemokratischen Werte nur missbrauchen. Auf einer politischen Bühne mit festen Spielregeln wie freie Konkurrenz, (teilweise) Unabhängigkeit und Chancengleichheit können künftige ukrainische Sozialdemokraten ihrer Landsleute viel anbieten.
Original: Vorwärts