Gespräch mit Dr. Sereda, Center for Urban History and East Central Europe

Gespräch mit Dr. Viktoria Sereda (Center for Urban History and East Central Europe), am 30. Mai 2014 in Lwiw

(Galyna Spodarets)

Am 30. Mai 2014 fand in den Räumlichkeiten der Katholischen Universität Lwiw das Treffen der AK-Osteuropa Delegation mit Dr. Viktoria Sereda zum Thema „Die Ukraine der Regionen“ statt. In einer spannenden Präsentation wurden den osteuropainteressierten StipendiatInnen der FES die Ergebnisse eines Projektes zur transkulturellen und interdisziplinären Konzeptualisierung der Ukraine vorgestellt. Die Hauptidee dieses Projekts war, auf die ukrainischen Regionen und dessen Bewohner nicht aus der stereotypischen Unterteilung zu schauen, sondern die quantitativen und qualitativen Daten aus jedem Verwaltungsbezirk (Ukrainisch „Oblast“) des Landes zu sammeln und zu vergleichen. Somit wurden uns die regionalen Gemeinsamkeiten und Differenzen zu den Fragen der ukrainischen Identität, des Gedächtnisses und der Religion im soziogeographischen Kontext präsentiert. Diese soziologische Untersuchung wurde 2013 anhand einer vergleichenden Representativbefragung von ca. 6000 Probanden in allen Regionen der Ukraine – auch in „ethnisch“ relativ heterogenen Regionen wie Tscherniwzi, Uschgorod und auf der Krim – durchgeführt. Welche Elemente der Kultur spielen für die Selbstidentifikation der Bewohner dieser Gebiete eine Rolle? Wird die historische Vergangenheit in die Identität der Bewöhner des Landes bewusst mitaufgenommen? Frau Sereda stellte uns die ersten Ergebnisse ihrer Untersuchung vor.

Um die stereotypisierte Ost-West-Kombination zu vermeiden, wurde eine Unterteilung anhand der zehn wichtigsten Regionen der Ukraine vorgenommen, die da sind: Galizien, Nordwesten, Südwesten, Kiew, Zentrum, Nordosten, Osten, Süden, Industriegebiet Donbass und die Halbinsel Krim (siehe Bild 1).

Ethnische Zusammensetzung der zehn untersuchten Regionen
Ethnische Zusammensetzung der zehn untersuchten Regionen

Welcher Nationalität fühlt man sich in diesen Regionen zugehörig? Probanden wurde eine Skala von 1 (nicht wichtig) bis 5 (sehr wichtig) zur Bewertung gegeben. Aus den erhobenen Daten wurde ersichtlich, dass die russische Nationalität bzw. die russische Identität nur auf der Krim dominiert. In allen anderen Regionen fühlen sich Menschen mehrheitlich der ukrainischen Identität zugehörig. Ebenfalls wurde bewiesen, dass die ukrainische Identität auch für ethnische Russen von äußerster Wichtigkeit ist.

Um die regionalen Unterschiede zum Thema Identität heraus zu arbeiten, wurden die Probanden gebeten, ihre Identität aus 15 Möglichkeiten auszuwählen (ukrainisch, russisch, slawisch, europäisch, regional, beruflich u.a.). So ist die nationale ukrainische Identität im Westen, Norden und Zentrum des Landes mehr ausgeprägt, als die regionale oder lokale. Dagegen ist im Süden, Osten und im Donbass eine gegenläufige Tendenz der Prävalierung der regionalen Identität festzustellen. Die europäische Identität ist nur im Westen und Norden des Landes etwas stärker ausgeprägt als die slawische, im Gegenteil zum Zentrum, Süden und Osten, wo die Zahlen genau die umgekehrte Situation kennzeichnen. Bemerkenswert ist dabei, dass in allen Regionen die ukrainische Identität über dem arithmetischen Mittelwert liegt, während die russische sich nur in Donbass und im Süden (da die Krim mit einberechnet wurde) der Mittelwertgrenze nähert (siehe Bild 2).

Regionale Unterschiede der territorialen Identitäten
Regionale Unterschiede der territorialen Identitäten

Das nächste Bild veranschaulicht die Unterteilung der ukrainischen Identität in den unterschiedlichen Verwaltungsbezirken des Landes. Anhand der erhobenen Daten wird deutlich, dass die stereotype Ost-West-Unterteilung nicht der Realität entspricht. Die Karte ist „bunt“ gemischt und es sind innerhalb der Regionen große Unterschiede festzustellen. In der Donbass Region sind beispielsweise Unterschiede zwischen Donezk und Luhansk ersichtlich. Auch der westliche Teil des Landes ist nicht so einheitlich, wie die Forscher das erwartet haben (vergleiche: Tscherniwzi, Odessa, Donezk, Bild 3).

Ausprägung der ukrainischen Identität in den unterschiedlichen Verwaltungsbezirken
Ausprägung der ukrainischen Identität in den unterschiedlichen Verwaltungsbezirken

Zu welchem Grad denken Menschen, dass die Ukraine und Russland die gleiche Kultur haben? Es wird deutlich, dass die kulturelle Einheit unter den Bewohnern deutlich anerkannter ist, als die staatliche Einheit. Sehr gut wird diese Entwicklung am Beispiel von Galizien illustriert. Zwar werden die kulturellen Gemeinsamkeiten weithin akzeptiert, dagegen findet hier die Behauptung Russland und die Ukraine sind ein Staat keinerlei Unterstützung. Auf der Krim und in der Donbass Region sieht die Stimmungslage dazu anders aus. Die Vorstellung, dass Russland und die Ukraine ein staatliches Gebilde darstellen, findet bei mehr Probanden Unterstützung, als die Behauptung, dass Ukrainer und Russen Vertreter der gleichen Kultur seien (Bild 4).

Haben die Ukraine und Russland die gleiche Kultur/den gleichen Staat?
Haben die Ukraine und Russland die gleiche Kultur/den gleichen Staat?

Da die Ukraine ein bilinguales Land ist, wurde in der Studie auch die Frage nach den sprachlichen Vorlieben berücksichtigt. Sollte Russisch zweite Amtssprache werden? Während der Südosten Bilingualität unterstützen würde und die Akzeptanz dieser Vorstellung auf der Krim, in Odessa, Charkiw, Luhansk und Donezk über dem Durchschnitt liegt, würden Bewohner von Galizien diese Initiative nicht unterstützen. Aber auch in der Westukraine sind Differenzen unverkennbar: Transkarpatien, Wolhynien, Tscherniwzi würden in der Sprachenfrage anders handeln als Lwiw, Iwano-Frankiwsk und Ternopil (Bild 5).

Regionale Zustimmung zur Zweisprachigkeit
Regionale Zustimmung zur Zweisprachigkeit

In der Frage, ob ukrainische Staatsbürger Russisch sprechen sollen, sehen die Forscher klare Unterschiede. Überwiegend zustimmend zeigen sich die Gebiete, die heute im öffentlichen prorussischen Propagandadiskurs als „Neurussland“ bezeichnet werden, mit Ausnahme von Dnipropetrowsk. Die letzten politischen Entwicklungen in der Ukraine versinnbildlichen, wie die Sprachvielfalt zur Spaltung der Ukraine missbraucht werden kann.

Um die charakteristischen Merkmale des nationalen kollektiven Gedächtnisses im regionalen Vergleich aufzuzeigen, wurden drei Elemente untersucht: Feiertage, Personen und Ereignisse.

Feiertage

Fünf ukrainische Feiertage (Tag der Vereinigung, Geburtstag des Nationaldichters Taras Schevchenko, Tag der Unabhängigkeit, Tag der Verfassung und Holodomor-Gedenktag) und fünf sowjetische (23. Februar, 8. März, Tag der Arbeit, 9. Mai und Oktoberrevolution 1917) wurden betrachtet. Aus fünf ukrainischen Feiertagen wurde nur einer (Tag der Unabhängigkeit) weitestgehend akzeptiert, dagegen wurden die sowjetischen Feiertage (außer der Oktoberrevolution) in das ukrainische kollektive Gedächtnis aufgenommen und werden im ganzen Lande kontinuierlich gefeiert (nur drei Gebiete nehmen sie nicht an). Diese Entwicklung zeigt, dass die ukrainischen Feiertage im ukrainischen Gedächtnis weniger institutionalisiert wurden, als die sowjetischen.

Personen

Hier wurde die Methode der offenen Frage angewendet. Probanden sollten sich selbständig Helden und Antihelden überlegen und nennen. Drei Personen haben sich bei dieser Umfrage besonders herauskristallisiert, die in allen regionalen Ranglisten vorkommen: Bohdan Chmelnyzkyj, Taras Schewtschenko und Mychajlo Hruschewskyj. Ausnahmen bilden hier nur Donezk, Luhansk, Saporischschja und die Halbinsel Krim, wo der Name Hruschewskyj nicht erscheint.

Als die meist umstrittenen Figuren der ukrainischen Geschichte haben sich Bandera und Mazepa rausgestellt.

Eine eindeutig negative Bedeutung wurde in allen Regionen Stalin zugeordnet. An Hitler wurde sich nur in fünf Verwaltungsbezirken negativ erinnert. Gorbatschow wurde in drei Verwaltungsbezirken Galiziens und zwei Verwaltungsbezirken Wolhyniens zu positiven und in anderen 20 Verwaltungsbezirken zu den negativen Personen gezählt. Eine sehr klare regionale Differenzierung einer Person, die für den Zerfall der Sowjetunion verantwortlich gemacht wurde. Juschtschenko bekam fast in 18 Regionen der Ukraine eine negative Bewertung und Janukowytsch in 13.

Ereignisse

Bei historischen Ereignissen haben sich die Probanden auf das 20. Jahrhundert fokussiert. Zu den zwei Ereignissen, die in der ganzen Ukraine gleich hohe Relevanz besitzen, zählen der Sieg im Zweiten Weltkrieg und die Unabhängigkeitserklärung von 1991.

Als weitere positive Ereignisse nannten die Bewohner des Westens und des Zentrums die Orange Revolution und das Kosakentum, die Bewohner des Südens und Donbass den Perejaslaver Vertrag mit Russland, den Hmelnyckyj 1654 unterschrieben hat, die Vertreter des Nordens und Zentrums die Kiever Rus. Eine interessante Beobachtung ist die Tatsache, dass in fast allen Verwaltungsbezirken die ukrainische Unabhängigkeit (sprich Ende der Sowjetzeit, Abspaltung vom russischen Einflussgebiet) als ein positives Ereignis wahrgenommen wurde, aber zugleich wurden andere Ereignisse, wie die Gründung und der Zerfall der Sowjetunion als positive markiert.

Die Orange Revolution 2004 wurde in 13 Verwaltungsbezirken (Osten, Süden und Donbass) als negativ eingestuft. In sechs zentralen Gebieten konnten gleichzeitig sowohl positive als auch negative Konnotationen konstatiert werden. Die gleiche Ambivalenz besitzt auch die Auswertung der Präsidentschaft von Janukowytsch.

Zu den eindeutig negativen Ereignissen, die fast in allen Umfragen vorgekommen sind, zählen die Hungernot 1932-33, der Zweite Weltkrieg und die Tschornobyl-Katastrophe. In sieben Verwaltungsbezirken (Galizien, Wolhynien und Zentrum) wurde die Erfahrung ein Teil der Sowjetunion zu sein als negativ eingeordnet. Seltener Erwähnung finden in dieser Umfrage solche Ereignisse wie die Oktoberrevolution 1917, Stalins Repressionen und der Krieg in Afghanistan.

Bei der Auswertung dieser Daten ist zu beachten, dass der ukrainische Raum ein heterogener Mischraum ist. Unterschiedliche Antworten auf die gleichen Fragen zeugen davon, dass die ukrainische Identität in bzw. aus einer äußerst vielfältigen und komplexen Mischung besteht: aus kosakischen Mythen, sowjetischen Narrativen, Kontakten zwischen Ost und West, unterschiedlichen Erinnerungskulturen und Geschichtsvorstellungen; aus diversen multiethnischen, sprachlichen und religiösen Traditionen. Der ukrainische Raum bedient sich von diesen Mischungen, was dazu führt, dass aus einem Mischraum sich schwerer eine Identität ableiten lässt als aus einem homogen strukturierten Raum. Frau Sereda betonte aber, dass dies eine positive Entwicklung sei, wenn den Einzelnen bewusst wird: „Wir sind unterschiedlich, aber wir sind eins“.

Mit dieser Analyse werden bestimmte Tendenzen für die fünf wichtigsten Regionen (den Westen, die Zentralukraine, die Ostukraine, die Halbinsel Krim und den Süden) ersichtlich. Es lassen sich aber keine klaren Grenzen zwischen Ost und West, Nord und Süd weder im politischen, noch im kulturellen Kontext ziehen. Die Präsidentschaftswahlen vom 25. Mai 2014 haben gezeigt, dass die Ukrainer nach dem Maidan, der Krim-Krise und der präkeren Entwicklung im Donbass mehr denn je vereint sind.

Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen nach Verwaltungsbezirken
Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen nach Verwaltungsbezirken

Da die in der Präsentation skizzierten Daten noch vor dem Maidan erhoben wurden, wäre es interessant herauszufinden, welche Verschiebungen in der Identität der Ukrainer nach dem Maidan feszustellen sind. Aus diesem Grunde wurden weitere Interviews durchgeführt. Die vollständige Monographie mit den Auswertungen der Umfragen auf dem Maidan, in Kiew, in Lwiw und Charkiw zur Identität, europäischen Perspektiven und aktualisierten mentalen Vorstellungen wird im März 2015 veröffentlicht.

[Nach einer ausführlichen Präsentation bot sich die Möglichkeit an, der Referentin Fragen zu den aktuellen Ereignissen zu stellen. Aktiv wurden Meinungen zu folgenden Themen ausgetauscht: die politische Zukunft der Ukraine, die antiukrainische Propaganda und der Nationalismus als deren Hauptlabel, die Präsidentschaftswahlen und die niedrigen Ergebnisse der nationalistischen Parteien, stereotypisierte vereinfachte Vorstellungen und Notwendigkeit der Verbreitung fundierter Informationen zur Situation im Land. Es wurde über die Notwendigkeit der Öffnung der ukrainischen Geschichte gesprochen, damit ein kollektives nationales Gedächtnis eine Chance auf eine adequate objektive Ralativierung erfahren kann.

Da Frau Sereda vor einem Jahr Interwievs in Simferopol, Jewpatorija und anderen Städten und Dörfern der Krim durchführt hat, fragten wir nach ihrer Einschätzung der jüngsten Entwicklungen auf der Halbinsel. Laut Sereda war noch vor einem Jahr nicht zu erkennen, dass die Bewohner der Krim sich eine Abspaltung von der Ukraine wünschen. „Wenn die bewaffneten grünen Männchen nicht da wären, würden die Ergebnisse des ohnehin rechtswidrigen Referendums anders ausschauen“.

Heute kommen zahlreiche Flüchtlinge aus der Krim nach Lwiw. Viele davon sind Krimtataren, die vor Verboten, Verfolgungen und Verhaftungen flüchten. Sie lassen alles zurück und bauen mit Hilfe der ukrainischen Zivillgesellschaft ihr Leben aufs Neue auf. Das einzig positive daran ist, dass es in Lwiw ein krimtatarisches Restaurant aufgemacht hat, das wir nach dem Treffen neben Ploscha Rynok besuchten. So lecker hat uns das Essen bei der Flüchtlingsfamilie Jusbaschev geschmeckt. So bitter ist der Nachgeschmack der Geschichte.

Krimtatarische Flüchtlingsfamilie Jusbaschev aus Jewpatorija, die am 7. Mai 2014 ein Restaurant in Lwiw aufgemacht hat
Krimtatarische Flüchtlingsfamilie Jusbaschev aus Jewpatorija, die am 7. Mai 2014 ein Restaurant in Lwiw aufgemacht hat

„Alles neu macht der Maidan“ – Call for Papers!

 

„Alles neu macht der Maidan?“

Interdisziplinäre Perspektiven auf eine Ukraine im Umbruch

Call for contributions for an edited volume/Beiträge zu einem wissenschaftlichen Sammelband

 

Die Ukraine ist mit den Geschehnissen auf dem Maidan und der Krim in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Mit der brisanten Entwicklung in der Ostukraine und der drohenden machtpolitischen Ost-West-Konfrontation in Europa wuchs ein Bedarf an Analysen zur Lage in der Ukraine.

Die bisherigen Studien haben oft einen exklusiven empirischen oder rein theoretischen Fokus. Viele aktuelle Analysen sind zudem populärwissenschaftlicher Natur und kommentieren die aktuellen Ereignisse, ohne diese in einen breiteren Kontext zu stellen. Normativ-geprägte Ansätze (wie diejenige der Transformationsforschung) hingegen konzentrieren sich auf ausgewählte Aspekte und können die Umbrüche und ihre Komplexität nicht erschöpfend analysieren. Die Ukraine selbst und ihre (außen-)politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und sonstigen Probleme rücken gegenüber einer starken Betonung der geo- und außenpolitischen Aspekte oft in den Hintergrund der Analysen. Dabei bleibt das Land mit einer Bevölkerung von knapp 45 Millionen Menschen und dem neben Russland flächenmäßig größtem Territorium des europäischen Kontinents für die westliche Öffentlichkeit, Politik, und sogar Wissenschaft weitgehend unbekannt. Der jüngste Konflikt und die Ereignisse in und um die Ukraine zeigten die Gefahren dieser Vernachlässigung und gleichzeitig die Notwendigkeit umfassender Studien auf, die die Krise(n) der Ukraine einer vielseitigen Betrachtungsweise öffnen und die Ukraine selbst in den Mittelpunkt stellen.

Das Ziel des Sammelbandes ist, analytische Lücken mit Hilfe eines interdisziplinären Ansatzes zu identifizieren und ein holistisches Bild auf die vielfältigen Krisen einer Ukraine im Umbruch zu schaffen. Dank einer interdisziplinären Herangehensweise und einer theoretischen Vielfalt (z. B. Transformations- und Erinnerungsforschung, Oral History und Kontextanalyse, etc.) wird dieser Sammelband einen Beitrag zum Verständnis der gesellschaftspolitischen Zusammenhänge in der Ukraine in ihrer Rückwirkung auf die aktuellen Krisenprozesse leisten.

Inhaltliche Konzeption

Willkommen sind Beiträge aus allen Fachrichtungen, die die Krise(n) der Ukraine aus ihrer disziplinspezifischen Perspektive heraus identifizieren und betrachten. Aus transitionstheoretischer Sicht wird die Ukraine zuletzt als im Graubereich verharrend, die politische Entwicklung des letzten Jahrzehnts als Stillstand beschrieben (vgl. zuletzt Geissbühler, in: ders.(Hg.), Kiew ‑ Revolution 3.0). Im Fokus der Beiträge steht auch deswegen die Frage, ob es sich im Zusammenhang mit den/der identifizierten Krise(n) und aktuellen Umbrüchen potentiell von einer Zäsur oder einer Sackgasse sprechen lässt, und welche Möglichkeiten sich aus der(n) Krise(n) ergeben. Die jeweiligen Krisen (die aktuell und davor entstandenen), die den Analysegegenstand der einzelnen Beiträgen bilden, sind von den AutorInnen selbst zu identifizieren und im Bezug auf die Fragestellung zu untersuchen. Sowohl empirische, als auch theoretische Analysen sind von Interesse. Die individuelle Definition des Analysegegenstandes („Krise“) führt zu einer nicht notwendig auf die aktuellen Umbrüche („Ukraine-Krise“, „Krim-Krise“, „Krieg im Donbass“) beschränkten Analyse, die auch Wechselwirkungen der identifizierten, auch vor den Ereignissen 2014 bestehenden oder entstandenen Krisen untersuchen kann. Durch den Vergleich von unterschiedlichen (auch historischen) Krisenräumen soll ein Dialog der Perspektiven entstehen, während die primär auf den ukrainischen Raum bezogenen Themen durch eine komparatistische Perspektive die notwendige Relativierung bekommen werden. Dieser inklusive interdisziplinäre Ansatz ermöglicht einen holistischen Blick auf eine Vielfalt von Themen- und Problemkomplexen. Einreichungen sind nicht beschränkt auf die unten vorgeschlagenen Fragestellungen:

Gesellschaft in der Krise

–              Mediale, diskursive und semantische Konstruktion der Krise

–              Neue Formen des sozialen Protests

 –             Gesellschaftliche und/oder soziale Trennlinien

–              Identität in der Krise

–              Wahrnehmungen in der Krise: Klischees und Stereotypen und deren Instrumentalisierung

–              Sprache und Sprachnutzung in der Krise: ambivalente sprachliche Identifikation und/oder ethnische Hybridität

–              Gesundheitssystem in der Krise

–              Wertewandel und Krise

–              Natur und Umwelt in der Krise, Ökologische Krise

–              Wirtschaft und Krise/ Wirtschaftskrise/ Wirtschaft in der Krise

(Außen-)Politik in der Krise

–              Krise der multivektoralen Außenpolitik

–              Europäische Integrationsperspektive in der Krise

–              Geopolitik in der Krise: Zuordnung, Orientierung, Einflusssphären und deren Legitimation

–              Politische Kultur und das politische System in der Krise

–              Politische Parteien in der Krise

–              Transformation und Transformationswissenschaft in der Krise

–              Sozialstaat in der Krise

–              Minderheiten in der Krise

 

Recht und Rechtsstaatlichkeit in der Krise

–              Rechtsstaat in der Krise: Korruption, Unabhängigkeit, Vertrauen

–              Völkerrecht in der Krise: Durchsetzbarkeit, Souveränität und Selbstbestimmung

Geschichte der Krise und Geschichte in der Krise

–              Periodisierung der Krise(n)

–              Geschichtspolitik und Krise

Es ist Anliegen dieses Sammelbandes, die terra incognita der Ukraine durch eine Mischung aus empirischen und normativen Perspektiven auf die Krise(n) der Ukraine und problembezogenen Analysen auszuleuchten.

Angaben zur Einreichung von Beiträgen/Hinweise für AutorInnen

Bitte senden Sie Ihre Abstracts (Dateiformat: pdf oder docx) von nicht mehr als 2000 Zeichen bis Montag, den 22. September 2014, per E-Mail an Simone Stöhr (Simone.Stoehr@fes.de). Eine Entscheidung über die Aufnahme in dem Sammelband wird spätestens bis zum 6. Oktober 2014 erfolgen.

Anschließend bitten wir um einen entsprechenden Beitrag, dessen Umfang 20 Seiten, Times New Roman, Schriftgröße 14 (Fußnoten: Schriftgröße 13) nicht überschreiten soll. (Formalie_Reihe_IMPULSE)

Vom 23. bis 24. Oktober 2014 findet mit fachlicher und finanzieller Unterstützung der Promotionsförderung der Friedrich-Ebert-Stiftung ein AutorInnentreffen in Bonn statt, das vor allem der Verzahnung der Beiträge und einem konstruktiven Austausch zwischen AutorInnen und eingeladenen Gästen dienen soll.

Der Sammelband soll 2015 in der Reihe „IMPULSE – Studien zu Geschichte, Politik und Gesellschaft“ im Wissenschaftlichen Verlag Berlin (wvb) erscheinen.

Für weitere inhaltliche und formale Fragen und Anregungen steht Ihnen das Herausgeber-Team gerne zur Verfügung:

Tobias Endrich, Universität Passau, (endrich.tobias@gmail.com)

Khrystyna Schlyakhtovska, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg (khrystynaserg@gmail.com)

Galyna Spodarets, Universität Regensburg (galyna.spodarets@gmail.com)

Evgeniya Bakalova, Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung/HSFK (bakalova@hsfk.de)

Link zum Call als pdf: Alles neu macht der Maidan

Geschlossene Städte

(Hannah Brodersen)

Закрытое административно-территориальное образование (ЗАТО), zu Deutsch „Geschlossenes administrativ-territoriales Gebilde“, besser bekannt als „Geschlossene Städte“, ist ein Phänomen, das in seiner Form nur in der Sowjetunion und im heutigen Russland zu finden ist und für uns in Westeuropa als sehr fremd oder gar mystisch anmutet. Was genau sind „geschlossene Städte“? Warum und wozu gab, ja gibt, es sie? Und wie lässt sich ihre Einrichtung mit der auch in Russland als Grundrecht geltenden Freizügigkeit vereinbaren? Diese Fragen versucht Hannah in einer kurzen Analyse zu beantworten (rus.).

 

 

Brodersen, Hannah_Закрытое административно-территориальное образование by FES_OstIA

 

 

 

 

 

Viele Neue Menschen auf dem Weg nach Salasu de Sus

(Kristin Kretzschmar)

Aus Caransebes machte ich mich endlich auf den Weg nach Salasu de Sus, wo ich Mihai treffen wollte. Ein guter rumänischer Freund, der in Berlin verweilte, legte mir einen Besuch dieses außergewöhnlichen Menschen ans Herzen, da ich mit ihm wunderbar diskutieren könnte und wahrscheinlich auch die Berge mögen würde.

Noch lagen etwa 80 km Weg vor mir. Da der Tag noch jung war und die Busverbindungen eher rar, entschied ich mich wieder zu trampen. Nach nur wenigen Minuten hielt ein weißer Geländewagen. Der Fahrer stellte sich als Simeon vor und stimmte zu mich bis nach Hateg, die nächstgrößere Stadt unweit von Salasu, mitzunehmen, wenn ich damit einverstanden sei kurz bei seinen Eltern anzuhalten, da er Ihnen noch einen Sack Getreide bringen wollte.

Das Zentrum von Caransebes.

Auch Simeon befand sich auf Reisen. Sein Ziel waren historischen Gedenkstätten seiner Vorfahren – der Daken. Unterwegs stellt sich heraus, dass der aus Timiosara stammende Landwirt momentan auch Jura studiert und gefühlt jede Jahreszahl mit historischen Geschehnissen in Verbindung bringen kann. Nach einem kurzen Abstecher in seinen Heimatort hielten wir wieder an einer Trinkwasserquelle – natürlich mit dem weltweit besten Quellwasser.

Sarmizegetusa

Unterwegs passierten wir auch Sarmizegetusa, eine historische Siedlung die von  80 v. Chr. bis 106 nach Chr. wichtigstes Handels- und Wirtschafts- sowie religiöses Zentrum des von Dakern bewohnten Gebietes war. Simeon war skandalisiert über meine Wissenlücken im Bereich der Daker und musste nicht viel Überzeugungsarbeit leisten um mich für einem Besuch zu begeistern. Die Überreste der Siedlung wurden Ende des 18. Jahrhunderts entdeckt. Besonders in den frühen 1990er Jahren wurden weitere Ausgrabungen vorgenommen. Momentan steht das Projekt aber still. Die Ausgrabungsstätten wirken stiefmütterlich behandelt. Simeon berichtete von einigen Plünderungen. So wurden Steine der historischen Siedlung zum Teil für Hausbauten verwendet. In unweiten Tustea hat man die Steine angeblich auch bei Kirchenbau verwendet, und so seien noch heute römische Inschriften auf dem Altar zu finden.

Überreste einer Korinthischen Säule in Sarmizegetusa.

Auf der weiteren Fahrt tauschen wir uns auch über aktuell poltische Fragen aus und gerieten in eine hitzige Diskussion über Frauenbilder. Der Widerspruch zwischen Simeons allgemeinen Bildungsstand und seinem reaktionären Ansichten bezüglich der Rolle und den Aufgaben von Frauen ist mir auch einige Zeit später noch unerklärlich. So sei es die Aufgabe von Frauen dem Manne Kinder zu schenken. Damit Sie diese Aufgabe zu vollen Zufriedenheit der Familie und Gesellschaft erfüllen kann, sei Erwerbsarbeit zu vermeiden. Besonders durch das Geschenk Gottes gebären zu können, sei der Mann der Frau gegenüber zu Respekt verpflichtet und als Versorger beauftragt.

Haus des Couchsurfers Mihai in Salasu de Sus.

Da auch Simeon auf Reisen war und noch keine Unterkunft hatte, entschied er sich auch bei Mihai Unterschlupf zu suchen. Am späten Nachmittag erreichten wir Salasu de Sus. Aus drei Gründen ist Mihais Haus kaum in dem Örtchen kaum zu verfehlen. Ersten, besteht der Ort praktisch gesehen nur aus einer Straße. Zweitens, hebt sich sein Haus durch kreative Gestaltung eindeutig von den anderen ab und wenn man doch Probleme haben sollte, dann kann man jeden Fußgänger in einem Umkreis von 25km nach dem Weg fragen: Jeder kennt Mihai.

Rumänische Jugendliche versuchen regionale Themen künstlerisch zu verarbeiten.

Mihai ist hauptberuflich Couchsurferund lebt im Stile der Boheme. Über Wasser hält er sich mit Gelegenheitsjobs in Deutschland oder Frankreich, auch wenn er wie er selbst sagt durchaus „lazy days“ bevorzugt. Auf seinem Couchsurfing Profil stilisiert er sich als Zyniker – seine Philosophie „sometimes I think cynically, choose hedonistic-ally, endure stoically and mix all every once in a while. Mainly just live and let die.“ Seine Diskussionskultur ist herausfordernd – mit polemischen und vorsätzlich übermäßig provozierenden Argumenten versucht er zu polarisieren. Wer einmal angebissen hat, kommt so schnell nicht mehr heraus. Seine Lieblingsthemen: Unzulänglichkeiten des Bildungssystems, Lebensphilosophie, die Europäische Union, Stereotypen… und als Autodidakt hat er zu all diesen Themen einen unglaublich umfangreichen Wissensschatz gesammelt.

Kulturelle Veranstaltungen sind in den ländlichen Regionen Rumäniens die Ausnahme – die Anschlagtafel bleibt meistens leer.

In seiner Region hat er sich auch als Kritiker der kommunalen Politiker und Spürhund für Korruptionsfragen einen Namen gemacht. Um Öffentlichkeit zu schaffen, nutzt er hauptsächlich Facebook. Die Reaktionen sind nicht nur positiv: „In Hateg hatte ich praktisch gesehen in allen Geschäften Hausverbot, da der Bruder des ehemaligen Bürgermeisters hier Großunternehmer ist. Keiner wollte es sich mit diesem Gespann verspielen.“

Am Abend besuchten wir in der Kleinstadt Hateg eine Kunstaustellung, die gemeinsam von lokalen Schülern und Kunststudenten aus der Umgebung organisiert wurde. Anliegen war es, darauf hinzuweisen, dass die ländlichen Gebiete im Bezug auf Kunst verkommen. Es gibt keine Angebote und regionale Kunstschaffende werden nicht gewürdigt.

Schicht im Schacht

(Christopher Forst)

Wenige Tage vor dem Spiel bekam ich die überraschende Nachricht. Bei einem Gewinnspiel der ukrainischen Botschaft in Berlin hatte ich zwei Karten für das Achtelfinale der Champions League zwischen Borussia Dortmund und Schachtjor Donezk im Dortmunder Signal-Iduna-Park, dem größten Stadion Deutschlands, gewonnen. Das Besondere daran war, dass es sich um Karten für den Auswärtsblock handelte. Als Osteuropastudent und Fan von Alemannia Aachen verbindet mich nur wenig mit Borussia Dortmund, dafür aber umso mehr mit Schachtjor Donezk. Auch Thomas, der mich begleitete, hatte nur wenig für Dortmund übrig, sodass wir entschlossen waren, Schachtjor über 90 Minuten und wenn nötig auch noch länger anzufeuern.

90 Minuten Unterstützung für Schachtjor Donezk (Bild: Christopher Forst)

Wer die empfehlenswerte Dokumentation „The Other Chelsea“ (s. unten) noch nicht gesehen hat, dem sei gesagt, dass Schachtjor zwar einen der reichsten Männer der Ukraine, Oligarch Rinat Achmetow, an seiner Spitze hat, die „einfachen Fans“ aber oft aus dem traditionellen Milieu der „Kumpel“ kommen (eine Parallele zu Borussia Dortmund). Auch der Name „Schachtjor“ ist auf das Wort „Schacht“ zurückzuführen. Insofern trifft der Begriff „The Other Chelsea“ nur bedingt zu. Während man an der Stamford Bridge oft das Gefühl hat, eine Stecknadel fallen hören zu können, gelten die Fans von Schachtjor durchaus als heißblütige „Fanatiker“. Schon auf dem Weg zum Stadion wurde deutlich, dass meine Russischkenntnisse zur Verständigung mit Schachtjorfans völlig ausreichend sein würden und es nicht nötig sein würde, Ukrainisch zu verstehen. Der Verein heißt offiziell „Schachtar“, dieser Name ist ukrainisch. Da jedoch so gut wie jeder Schachtjorfan Russisch als seine Muttersprache ansieht, findet man den ukrainischen Namen nur im Logo des Vereins, nicht aber z.B. in Anfeuerungsrufen wieder.  Präsident Wiktor Janukowitsch, der als russlandfreundlich gilt, ist übrigens nicht nur selbst in der Region („Oblast“) Donezk geboren, er hat auch Zustimmungsraten von etwa 90 Prozent unter den Anhängern des Vereins. Der Vereinschef Rinat Achmetow ist Mitglied in Janukowitschs Partei und der Präsident ist Stammgast bei Heimspielen in der „Donbass Arena“, dem hochmodernen Stadion, das auch Austragungsort von Spielen der EM 2012 war.

Der Signal-Iduna-Park muss den Vergleich mit der Donezker Donbass-Arena nicht fürchten. (Bild: Christopher Forst)

Das Spiel selbst war leider aus ukrainischer Sicht katastrophal. Der BVB dominierte nach Belieben. Santana, Götze und Blaszczykowski („Kuba“) trafen zum hochverdienten 3:0 Endstand. Das einzige Aufbäumen der „Schwarz-orangen“ (die jedoch im weiß-orangen Auswärtsdress antraten) war kurz nach dem Wechsel zu spüren, als einer der vielen ukrainischen Brasilianer, der eingewechselte Douglas, für Druck über die rechte Seite sorgte. Mit dem unglaublichen Torwartfehler von Pyatov zum 3:0 in der 59. Minute, bei dem uns auf der Tribüne das Entsetzen ins Gesicht geschrieben stand, war die Gegenwehr gebrochen. Dortmund brachte den Sieg souverän nach Hause. Nach Hause ging es auch für uns pünktlich mit dem Abpfiff, da die Zuganbindung von Dortmund nach Köln an einem Dienstagabend leider äußerst schlecht ist.

Traditionelle Fankleidung bei Spielen von Schachtjor (Bild: Christopher Forst)

Die Fans von Schachtjor waren verhältnismäßig ruhig (in der Vergangenheit waren sie mehrmals durch bengalische Feuer und nackte Oberkörper bei Minustemperaturen aufgefallen). Schuld daran war wohl neben dem schlechten Spiel und dem generellen Alkoholverbot in der Champions League auch, dass es fast eine ganze Halbzeitpause lang dauerte, bis die Getränkeverkäufer im Signal-Iduna-Park dem Wunsch nach Tee für die ukrainischen Gäste nachkamen. Andere Länder, andere Sitten. Tee gehört in Donezk wohl zu einem guten Fußballspiel genauso dazu, wie Schutzhelme und brasilianische Stürmer. Als die eingefleischten Anhänger von Schachtjor übrigens bemerkten, dass sich zwei Deutsche unter sie gemischt hatten, die mit ihnen gemeinsam die Mannschaft anfeuerten, wurde dies kurz und knapp so kommentiert: „Das ist gut.“ Das Ausscheiden im Achtelfinale der Champions League ist hingegen schlecht für den Verein, wenngleich die Niederlage wohl durchaus nicht überraschend kam. Folgt man der Donezker Weisheit, dass es dem Schacht immer dann besonders gut geht, wenn Schachtjor gut gespielt hat, kann man nach der unterirdischen Leistung der ukrainisch-brasilianischen Mannschaft an diesem Dienstagabend in Dortmund leider nur sagen: Schicht im Schacht!