Erfahrungsbericht über eine Studienexkursion nach Bosnien-Herzegowina (Teil 2)

(Kristine Avram, Universität Marburg)

Im ersten Teil hatte ich einige Eckdaten des Staatszerfalls Jugoslawiens und des sich daraus ergebenden Bürgerkrieges dargestellt. Im nachfolgenden Essay habe ich mich wie angedeutet mit politisierten Erinnerungen und kollektiven Gedächtnissen auseinandergesetzt, wobei ich auf meine Gesprächsaufzeichnungen aus Bosnien-Herzegowina zurückgegriffen habe − die Namen der Gesprächspartner habe ich allerdings mit Kürzeln versehen.

 

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2 Fäuste für …

(Tobias Endrich)

Normalerweise sind Finanzminister selten für ihre Freigiebigkeit bekannt. Ein ungewollt im Netz gelandetes Filmchen aber zeigt den tschechischen Finanzminister Miroslav Kalousek, wie er großzügig austeilt.

Am 21.9.2011 reagierte er auf die verbale Attacke eines unzufriedenen Bürgers vor dem Parlamentsgebäude mit zwei Ohrfeigen. Der Zeitung Lidové noviny sagte er, er habe nicht als Minister zugeschlagen – sondern „als älterer Herr“, der auf der Straße vulgär angegriffen wurde. Das junge Opfer bezeichnete Kalousek laut eigener Aussage als „Verbrecher, der längst hinter Gitter“ gehöre. Kalousek nannte die Tätlichkeit damals eine „Erziehungsmaßnahme“. Der Körpereinsatz des Ministers wurde im Dezember letzten Jahres in einem verkürzten Ordnungswidrigkeitsverfahren mit der Höchststrafe von 1000 Kronen (40 EUR) geahndet.

Am 4.2.2012 gelangte die Tageszeitung Blesk an das Video und veröffentlichte es auf ihrer Internetseite. Zu sehen ist, wie der Minister nach einem kurzen verbalen Austausch zweimal zuschlägt. Die Frage, wie das Video, das auf youtube bereits über 100.000 mal angeklickt wurde, in die Öffentlichkeit gelangte, bleibt offen.

Erfahrungsbericht über eine Studienexkursion nach Bosnien-Herzegowina (Teil 1)

(Kristine Avram, Universität Marburg)

Im Rahmen des Seminars „Genealogie des Erinnerns im Spannungsfeld zwischen Politik und Politisierung in Rwanda und Bosnien-Herzegowina“ bin ich im Februar des Jahres 2011 nach Bosnien-Herzegowina gereist, um Gespräche vor Ort zu führen, sowie diverse Gedenkstätten zu besichtigen.

All dies sollte ein tiefergehendes Verständnis für eben jene Thematik schaffen, letztlich muss ich aber gestehen, dass ich zu Beginn der Exkursion zwar auf einen vermeintlich großen Wissensschatz zurückgreifen konnte, dies jedoch nicht unbedingt „hilfreich“ war.  Denn wenn ich eine generelle Sache gelernt habe, dann dass das dortige komplexe Identitäts- und Beziehungsgebilde für eine stringente Analyse kaum zugänglich ist, insofern Identität oder Ethnie einer dynamischen Zuschreibung unterliegen – überspitzt formuliert bedeutet dies, dass Geschichte und Gegenwart beliebig ausgelegt werden.

Erschwerend hinzu kommt die Tatsache, dass der Krieg in Bosnien-Herzegowina unterschiedliche Arten bzw. Austragungsmodi aufwies und in der Folge Vergangenheitsaufarbeitung je unterschiedlich erfolgte bzw. erfolgen musste. Daran anknüpfend bedingte die politische Nachkriegsordnung auf Basis des Dayton-Abkommens eine ethnische Homogenisierung, welche sich ebenso auf die aktuelle Auseinandersetzung mit dem Krieg in den einzelnen Regionen niederschlägt, wenn nicht sogar maßgeblich leitet.

Zwar lag das Augenmerk der Reise ob der Anzahl der Gespräche vornehmlich auf Srebrenica, jedoch habe ich mich ebenso in Mostar und insbesondere Sarajevo aufgehalten, was mich mit o.g. Aspekten in Berührung gebracht und schließlich dazu geführt hat, dass ich mit deutlich mehr Fragezeichen wieder zurückgekehrt bin. Aufbauend auf dieser relativ unbefriedigenden Situation habe ich einen Essay geschrieben, der mir geholfen hat meine Gedanken zumindest ansatzweise zu ordnen und in Verbindung zu theoretischen Ansätzen zu bringen.

Eben diesen Essay findet ihr nach einer ganz kurzen Übersicht zu Bosnien-Herzegowina, der im besten Falle eine spannende Diskussion innerhalb des AKs anregt bzw. zumindest einige Denkanstöße, die ihr eventuell im (Studien-) Alltag ausweiten könnt, liefert. Hiernach findet ihr Literaturhinweise zu Erinnerungskulturen in Osteuropa, sowie einige kommentierte Bilder aus Bosnien-Herzegowina, aber auch aus Stationen meiner anschließenden Reise.

 

1.    Kurzer Überblick zu Bosnien-Herzegowina

Quelle 1
Quelle 2

Bosnien-Herzegowina war eine der sechs Republiken (Bosnien-Herzegowina, Slowenien, Mazedonien, Montenegro, Serbien und Kroatien), die die 1945 ausgerufenen föderativen Volksrepublik Jugoslawien bildeten. Der Krieg am Gebiet des ehemaligen Jugoslawien auch ihre Ursachen und Entstehung zeichnen sich durch hohe Komplexität aus. Stark verkürzt lassen sich die Gründe mit folgendermaßen beschreiben:

o    problematischer und manipulierender Umgang mit der Geschichte. Es gibt unterschiedliche und in sich widersprüchliche historische Erfahrungen
o    Mythologisierung der geschichtlichen Ereignisse und damit verbundene Schaffung historischer Scheinrealitäten
o    Unbewältigte Vergangenheit (z.B. Erfahrungen des 2. Weltkrieges, ungelöste Nationalitätenfrage)
o    Nationalismus und die Politik der ethnischen Mobilisierung und Differenzierung verbunden mit dem Wunsch nach ethnisch reinen Territorien
o    Modernisierungskonflikte ab Mitte der 80er Jahre wurden immer häufiger entlang ethnischer Linien ausgetragen
o    Zusammenbruch der herrschenden Ideologie und damit verbunden die Schwächung der Kommunistischen Partei.

„Dieser Strukturwandel in Richtung einer Dezentralisierung und Föderalisierung stärkte die nationalen Kategorien zu verfestigen. Fast in allen Teilrepubliken gelangten national orientierte Parteien und Koalitionen an die Regierung. Auch in Bosnien erheben die nationalistischen Parteien den Alleinvertretungsanspruch ihrer jeweiligen Nation.“

o    Probleme der Transformation nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes und dem Wegfall der bipolaren Weltordnung
o    Verlust der privilegierten geopolitischen und strategischen Position des jugoslawischen Staates durch den Umbruch 1989/90
o    Soziale Gegensätze zwischen den einzelnen Republiken und Völkern (Regionale Entwicklungsunterschiede, Nord-Süd-Gegensatz)
o    Religiöse Gegensätze und Instrumentalisierung der religiösen Gefühle
o    Wirtschaftliche Schwierigkeiten (Nord-Süd-Gefälle; Arbeitslosigkeit, Inflation, Auslandsverschuldung, Rückgang der industriellen Produktion…)
o    Außenpolitische Einflüsse (Weltpolitische Wandel, Unabhängigkeitserklärungen, Nationale Bewegungen)

Erste Auflösungserscheinungen des zerfallenden Jugoslawiens zeigten sich durch Unabhängigkeitserklärungen Sloweniens und Kroatien Anfang der 90er Jahre. Nach längerem Tauziehen auf diplomatischer Ebene verkündeten Slowenien und Kroatien am 25. Juni 1991 ihre Souveränität. Der Kosovo, Makedonien auch Bosnien-Herzegowina folgten dem Beispiel. Als Bosnien-Herzegowina den Weg der Unabhängigkeit ging, eskalierte der Konflikt auch in dieser ex-jugoslawischen Republik und somit begann eines der grausamsten Kapitel der europäischen Geschichte nach dem zweiten Weltkrieg, nämlich der Krieg in Bosnien-Herzegowina (1992-1995).

Das Massaker von Srebrenica

Srebrenica liegt in einem grünen Talkessel im Osten von Bosnien und Herzegowina, nahe der Grenze zu Serbien. Vor Beginn des Bosnienkrieges 1992 hatte die Kleinstadt etwa 8000 Bewohner. Im Laufe des Konflikts vervielfacht sich diese Zahl: Zehntausende Menschen drängen aus den umliegenden Dörfern nach Srebrenica. Es sind vor allem bosnisch-herzegowinische Muslime, die Schutz vor den Soldaten des Generals Ratko Mladic suchen. Der Befehlshaber der bosnischen Serben zieht den Belagerungsring um die muslimische Enklave immer enger. In Srebrenica wähnen sich die Flüchtlinge in Sicherheit. Die UN hat das Gebiet zur Schutzzone erklärt. Niederländische und kanadische Truppen sollen dafür bürgen. Doch der politische Führer der bosnischen Serben, Radovan Karadzic, und sein Militärchef Mladic lassen sich nicht aufhalten. Am 11. Juli 1995 nehmen die bosnisch-serbischen Einheiten die Stadt ein und begehen einen schrecklichen Massenmord.

Mehrere tausend Flüchtlinge versuchen durch die Wälder in Richtung bosnisch-muslimisch kontrolliertes Gebiet zu entkommen. Andere Flüchtlinge sehen den Stützpunkt der niederländischen Blauhelmsoldaten als letzte Hoffnung. Deren Basis liegt im sechs Kilometer entfernten Dorf Potocari, das zur Enklave Srebrenica zählt. Am Abend des 11. Juli drängen sich etwa 25.000 Menschen auf dem Gelände der ehemaligen Batteriefabrik, die meisten von ihnen Frauen, Kinder und Alte. Nahrung und Wasser sind knapp. Es herrscht Chaos. Viele der Flüchtlinge übernachten im Freien.

Von Srebrenica rücken die Einheiten von Mladic schon bald nach Potocari vor. Am 12. und 13. Juli beginnen die Soldaten dort Frauen und Männer zu trennen. Sie geben vor, nach Kriegsverbrechern zu suchen. Die etwa 350 Blauhelme auf dem UN-Stützpunkt sind überfordert. Ihnen fehlt das Mandat einzugreifen. So sehen die Niederländer tatenlos zu, wie Mladic seine gezielte „ethnische Säuberung“ fortsetzt: Frauen und Kinder werden auf Lastwagen und Bussen abtransportiert und bis kurz vor bosnisch-muslimisch kontrolliertes Gebiet gebracht. Die zurückgebliebenen Männer, die meisten von ihnen im wehrfähigen Alter, werden von Mladics Männern an verschiedenen Orten hingerichtet und verscharrt. Um den Massenmord an den etwa 8000 Menschen zu verschleiern, heben die Täter einige Gräber später wieder aus und verteilen die menschlichen Überreste auf andere Gebiete. Das Umbetten der Leichen findet auch nach Ende des Krieges noch statt.

Die UN deklariert das Massaker an den bosnischen Muslimen als Völkermord. Ende Februar 2007 bewertete der Internationale Gerichtshof die Gräueltaten ebenfalls als Genozid. Einige der Täter hat das UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag schon verurteilt. Das Verfahren gegen den Ex-Präsident der bosnischen Serben, Karadzic, läuft noch. Er wurde erst 2008 gefasst. Einer der mutmaßlichen Hauptverantwortlichen, Ratko Mladic, muss sich mittlerweile ebenfalls vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag verantworten.

Weiterführende Literatur

o    HSFK 2009. Standpunkte. Von der Krise in den Krieg? Vierzehn Jahre nach Kriegsende wächst in Bosnien und Herzegowina die Gewaltbereitschaft 
o    Joshua N. Weiss. Tuzla, The Third Side, and the Bosnian War
o   Timeline: Siege of Srebrenica

100 Bücher – kultureller Klebstoff für die russische Nation?

(Kristin Kretzschmar)

Aktuellen Meldungen zufolge plant der russische Präsident Putin die Ausarbeitung einer umfangreichen Bücherliste, deren Lektüre für jeden russischen Schüler verpflichtend werden soll. Ein solcher Lesekanon im Rahmen der Schulbildung erscheint zunächst wohlbekannt, doch diese Liste ist aufgrund von Umfang und Hintergrund der Idee doch außergewöhnlich.

Vor einer Woche erschien in der russischen Zeitung Nesawissimaja Gaseta ein programmatischer Artikel Putins zum Nationalitätenkonflikt. Hierbei erklärt Putin welche Rolle der russischen Kultur in der Beilegung dieses Konflikts zukommt. In dem umfangreichen Schriftstück erwähnt Putin auch die Zusammenstellung einer Liste mit 100 Büchern, die jeder Schüler gelesen haben muss. Allerdings soll dies nicht im Rahmen des Unterrichts geschehen, sondern im Selbststudium. Überprüfung erfolgt dann in Essays, Prüfungen oder Schülerwettbewerben. Putins Erklärung hierzu lautet: „Die Aufgabe des Bildungswesens besteht darin, einem jeden den absolut obligatorischen Umfang an humanitärem Wissen zu vermitteln, der die Grundlage der Selbstidentifizierung eines Volkes darstellt. In erster Linie muss es um eine Verstärkung der Rolle solcher Fächer wie russische Sprache, russische Literatur und russische Geschichte im Bildungsprozess gehen – natürlich im Kontext des gesamten Reichtums der nationalen Ideen und Kulturen“.  An anderer Stelle wird dann aber darauf verwiesen, dass mit dieser Liste die Dominanz der russischen Kultur erhalten werden soll. Hierbei gilt es zu bedenken, dass in Russland 160 verschiedene Völker leben. Kann in dieser Konstellation ein staatlich diktierter Lesekanon die Schüler auf die russische Nation einschwören? Die Sprache und Kultur die in diesen Büchern vermittelt werden, sollen laut Putin diese Völker zusammenhalten und letztendlich einen Staat bilden „in dem es keine nationalen Minderheiten gibt“.

Kritiker warnen: „Social engineering through state mandated literature: Nothing else that Putin has done has been quite so nakedly Soviet in its desire to manipulate the human intellect into docility.“  Was meint ihr: Social Engineering oder Erfüllung des Bildungsauftrages? Welche Erinnerungen habt ihr an den Lesekanon der Schule?

Von Jägern und Sammlern – und dem tschechischen Lotteriegesetz

(Tobias Endrich)

Im Januar beginnt in Tschechiens Gemeindezentren und Bürgerhäusern die  Zeit der Bälle – Feuerwehrball, Jägerball, Studentenbälle. Das hat Tradition. Zu dieser gehört neben Polka und Ballkleid als unbedingtes Highlight die Tombola.

Die zu später Stunde errungene Wurstkette, der Kräuterlikör mit Schleife eignen sich – je nach Verwendung – bei Lospreisen um die 10 Kronen zur Kostenminimierung des Abends  oder Schadensbekämpfung am nächsten Morgen.

Ein Fall für gesetzgeberische Betätigung im Sinne eines verstärkten Zockerschutzes also? Laut dem neuen Lotteriegesetz – ja.

Wo früher 10% des Verkauspreises der Lose abgeführt wurden, werden jetzt 20% fällig – plus eine zusätzliche Zahlung von 5000 Kronen im Vorraus. Das ärgert nicht nur die Feuerwehrmänner, die den überschaubaren Gewinn in der Regel sinnvoll einzusetzen wissen – z.B. im Bereich der Jugend. Auch das Finanzministerium ist nicht wirklich glücklich über das „Versehen“ im Gesetzgebungsverfahren und unterbreitete der Regierung bereits eine Gesetzesänderung, die ab 2013 gelten soll. Für die diesjährige Ballsaison bringt das natürlich wenig.

 

Deutsch-tschechischer Studentenball in Pilsen, Bildquelle: www.sojka.cz                 

 

So kommt es zu dem nicht nur in Tschechien selten auftretenden Phänomen, dass der Staat seinen Bürgern Tipps zum Steuersparen gibt. Mit den Feuerwehren und Jägern möchte es sich eben niemand verscherzen. Ein Tip besteht darin, den Preis für ein Los einfach auf den Eintritt zu schlagen, die Eintrittskarte ist dann gleichzeitig die Losnummer. Auch können sich Feuerwehr, Jäger- und Gärtnerverein zusammentun, um für ihre Tombolas gemeinsam nur einmal die 5000 Kronen zahlen zu müssen.

Grund für die harte Vorgaben des Gesetzes ist tatsächlich nicht die Kaffeemaschine oder die Bonboniere, sondern ein „weihnachtlicher Galaabend“ in Brünn/Brno vor zwei Jahren, an dessen Ende ein Regionalpolitiker einen fabrikneuen Ford Fiesta mit nach Hause nehmen durfte; sein Parteifreund gewann eine all-inclusive Reise nach Ägypten.

Preis für ein Los: 300 Kronen.

novOstia e. V.
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