„Es reicht mit der Angst“ – Was Belarus*innen für Demokratie riskieren

von Elena Mühlichen

Am 9. August 2020 soll in Belarus der Präsident gewählt werden und das Land steht Kopf. Nach jahrzehntelanger politischer Unterdrückung fordern zehntausende Protestierende vor allem eines: demokratische Wahlen.

Valiantsina weiß, es kann sie treffen.

Sie geht mit anderen Belarus*innen immer wieder auf die Straße und protestiert gegen den Präsidenten des Landes und hat schon oft mit angesehen, wie dabei Menschen von der belarusischen Polizei brutal festgenommen wurden. Lange gehörte sie als politisch aktiver Mensch zu einer Minderheit im Land. Doch plötzlich gesellen sich zehntausende Stimmen zu ihrer.

Irina* ist sich ihrer Angst bewusst, die hochkommt, wenn sie sich öffentlich gegen das Regime des Präsidenten äußert. Sie lebt in Deutschland, doch für den belarusischen Geheimdienst KGB ist es einfach, ihre Familie ausfindig zu machen. Dennoch sucht sie den Kontakt zu Journalist*innen, Politiker*innen, organisiert Kundgebungen in Deutschland. Sie weiß, dass sie auch beim Wählen in der belarusischen Auslandsvertretung in Deutschland mit Einschüchterungsversuchen rechnen muss. Dennoch will sie 2020 nach vielen Jahren politischer Zurückgezogenheit das erste Mal in ihrem Leben wählen gehen.

Sie erinnert sich noch an ihre Kommilitonin, Valerija*. Diese kam eines Tages bleich und zitternd in die Klasse und erzählte von ihrer Begegnung mit dem KGB. „Du hast Glück“, sagten die Männer, die die Haustür eingetreten hatten, zu ihr als Minderjährige. Denn ihr kritischer Twitter-Post hätte sie als Volljährige ins Gefängnis bringen können. Jahrelang schwieg Valerija nach dem Vorfall. Doch jetzt, im Jahre 2020, fasst auch sie wieder Mut, sich öffentlich gegen das Regime des Präsidenten zu äußern, sogar auf die Straße zu gehen.

Olga* kam als kleines Kind mit ihrer belarusischen Familie nach Deutschland. Sie hat inzwischen einen deutschen Pass, aber sie weiß, dass sie ein Einreiseverbot in das Land, in dem noch ihre Verwandten leben, riskiert, wenn sie öffentlich den Präsidenten Lukaschenko kritisiert. Trotzdem ist sie jetzt bereit, auf die Dikatur in ihrem Land aufmerksam zu machen.

Da ist Nadja*, die aus Protest gegenüber Lukaschenko bisher nie zu Wahlen ging und ihr Heimatland für ein besseres Leben verließ. Sie will sich jetzt als Wahlbeobachterin in einer der Auslandsvertretungen in Deutschland registrieren lassen, obwohl dies mit hohem bürokratischen Aufwand verbunden ist.

Und da ist Mikalaj*, der früher auf Demonstrationen vergeblich versuchte, die Verhaftung seiner Mitdemonstrant*innen zu verhindern. Jetzt, viele Jahre später schon in Deutschland etabliert, fiebert er immer noch für sein Heimatland mit und will als Freiwilliger Exit Polls am Tag der Wahlen durchführen, um den offiziellen Wahlergebnissen, die normalerweise gefälscht werden, etwas entgegensetzten zu können.

Verhaftungswelle

Im Vorfeld der anstehenden Präsidentschaftswahlen wurden dieses Jahr in Belarus schon unzählige Menschen teils gewaltsam verhaftet. Sie hatten friedlich protestiert, sie bildeten Menschenketten und klatschten. Oder bildeten absichtlich Staus und hupten. Oder veranstalteten eine Fahrradparade. Doch auch den belarusischen Regierungsbehörden war klar – dies richtet sich gegen sie. Sie führten weiterhin Menschen ab. Manche werden nach wenigen Stunden wieder entlassen, andere werden zu mehreren Jahren Haft verurteilt. Statt eines Wahlkampfes betont der Präsident öffentlich die Stärke seines Militärs.

Menschen werden nicht nur zufällig verhaftet – auch Journalist*innen von oppositionellen Medienhäusern sowie von namhaften ausländischen Sendern wie BBC. Und auch die potenziellen Präsidentschaftskandidaten. Zwei vielversprechende Anwärter auf das Amt wurden direkt festgenommen. Ein anderer flüchtete zur Sicherheit nach Russland. Gleichzeitig gibt es Hunderttausende von Menschen, die vor Ort bleiben und sich trauen, auf die Straße zu gehen und sich für einen Machtwechsel einzusetzen. Viele sagen, dass sie lange genug Angst hatten.

Die Opposition ist alles andere als tot: Als einer der Präsidentschaftskandidaten verhaftet wurde, stand spontan seine Ehefrau auf und ließ sich an seiner Stelle als Kandidatin registrieren. Sie wurde von den Behörden zugelassen, denn „unsere Verfassung ist nicht für Frauen. Und unsere Gesellschaft ist nicht reif genug, um für eine Frau zu wählen. Denn unsere Verfassung verleiht dem Präsidenten eine starke Macht“, wie es der jetzige Präsident Lukaschenko sagte. Er sei sich vollkommen sicher, dass ein Mann Präsident werde. Ihren Namen – Tichanowskaja – kennt nun jeder in Belarus, denn jetzt ist sie die vielversprechendste Anwärterin auf die Präsidentschaft der Republik Belarus. Sie schloss sich mit Weronika Tsepkalo, der Ehefrau des geflüchteten Präsidentschaftsanwärters, und Maria Kolesnikowa, der Wahlkampfmanagerin des anderen festgenommenen Kandidaten zusammen. Die Veranstaltungen des Trios werden zu Zehntausenden in verschiedensten Städten des Landes besucht. Ihre Social-Media-Beiträge werden unermüdlich angesehen und geteilt. Die Belarus*innen eint ein Ziel: die sogenannte „Kakerlake“ Lukaschenko abschaffen. Sie fordern gerechte Wahlen und die Freilassung der politischen Gefangenen. Sie wollen in ihrem Land keine Angst mehr haben müssen. Sie wünschen sich auch wirtschaftlich eine bessere Zukunft für ihr Land. Manche schreiben vom „belarusischen Frühling“.

Warum eigentlich?

„Die letzte Diktatur Europas“ – während Belarus (manchmal auch „Weißrussland“) in der Vergangenheit von westeuropäischen Massenmedien regelmäßig mit der gleichen relativ trockenen Phrase beschrieben wurde, war das für die ca. 9,5 Millionen Belarus*innen harte Realität. Während Lukaschenko in seinen ersten Präsidentschaftsjahren noch für einen wirtschaftlichen Aufschwung und wenig Korruption im Land sorgen konnte, vor allem durch einen guten Öl-Deal mit Russland, nahm der Wohlstand des Landes ab, seitdem der Öl-Deal 2010 platzte. So kam es zu sehr hoher Arbeitslosigkeit, wenig Nahrungsmittelangebot und weit verbreiteter Altersarmut.

2015 erließ der Präsident das im Volksmund genannte „Schmarotzergesetz“, welches dafür sorgte, dass als arbeitslos Gemeldete eine zusätzliche Steuer zahlen mussten, anstatt Sozialhilfe (wie in Deutschland) vom Staat zu erhalten. Dagegen wehrte sich das Volk auch schon mit Protesten, sodass es später wieder aufgehoben wurde. Doch seit 2019 gibt es ein neues Gesetz, das Wohnraum und kommunale Dienstleistungen wie Warmwasser, Gas und Heizung für Arbeitslose teurer macht. Damit nicht so viele Jugendliche das Land verlassen, wurde kürzlich verboten, Informationen zum Studium im Ausland ohne Zulassung zu verbreiten. Und Lukaschenko ließ sein Volk mit der Covid-19-Pandemie allein, indem er diese als „Psychose“ abtat, Corona-Toten für ihren Lebensstil Vorwürfe machte und gegen den Virus Eishockey, Wodka und Sauna empfahl.

Politische Freiheit gab es seit der Wahl Lukaschenkos im Jahre 1994 auch nicht mehr. Denn fortan sorgte der Geheimdienst für Einschüchterung und Verhaftungen derer, die ihre Unzufriedenheit über das Regime öffentlich äußerten oder oppositionelle Initiativgruppen bildeten. Der Präsident riss auch die Kontrolle der belarusischen Medien an sich. Er fälschte Wahlergebnisse, um an der Macht zu bleiben. Und vereinzelt kam es möglicherweise auch zu politischen Morden.

Was würdest du tun, wenn du in deiner Heimat ständig aufpassen müsstest, was du sagst, du kaum Geld verdienen könntest und gegen diese Umstände auch nichts unternehmen dürftest? Auswandern? Darüber denken laut Umfragen ca. 60% der Belarus*innen nach. Und viele haben es getan. Man schätzt die belarusische Diaspora auf 2,5 bis 3 Millionen, dabei zählen die vielen nicht mit, die schon die Staatsbürgerschaft anderer Länder erhalten haben.

Gehört werden

Nun gehen auch Belarus*innen und Symphatisant*innen im Ausland, auch in Berlin, München, Frankfurt, Bremen, Hamburg auf die Straße und zeigen ihre Solidarität mit denen, die dort geblieben sind.

Die Belarus*innen, mit denen ich sprach, haben auch einen klaren Appell an den Westen Europas. Sie wünschen sich auch, dass die EU Einfluss nimmt und Lukaschenkos Menschenrechtsverletzungen anprangert. Es solle Sanktionen geben, die ihn persönlich einschränken, aber nicht dem gebeutelten Volk schaden.

Doch vor allem geht es um die europäische Öffentlichkeit. Als George Floyd in der Hand eines Polizisten starb, war die Welt entrüstet und forderte Gerechtigkeit. Wenn Belarus*innen genau solch eine Polizeigewalt erleben müssen, schweigt Europa zumeist, obwohl das Land seine Grenze mit der EU teilt. Belarus*innen wollen ihrer Stimme wieder Geltung verleihen, sie wollen auch von uns gehört werden.

Und vielleicht haben sie es schon ein Stück geschafft, denn die EU lockert zum Beispiel die Visabestimmungen für Belarus*innen, verurteilt die Repressalien Lukaschenkos gegen das eigene Volk. Deutsche Abgeordnete übernehmen Partnerschaften mit politischen Gefangenen. Und auch unsere Medien schreiben immer mehr über die bisher nie dagewesene Situation im Land.

Am 9. August 2020 sind die nächsten Präsidentschaftswahlen. Was am Wahltag und danach geschehen wird, ist ungewiss und unberechenbar. Wie weit werden die Bürger*innen gehen, um demokratische Wahlen durchzusetzen? Wie weit wird der Autokrat Lukaschenko gehen, um seine Macht zu erhalten?

Irina, Valiantsina, Nadja und Mikalaj und viele Belarus*innen mit ihnen werden zum ersten Mal seit Jahren wieder wählen gehen, denn diesmal gibt es die Hoffnung, dass ihre Stimme etwas bewirken kann. Das belarusische Volk hat wieder angefangen, an sich selbst zu glauben.

*Namen geändert

AK Osteuropa in Minsk: Gedenkstätten Malyj Trostenez und Blagowschtschina – Holocaust- Erinnerungskultur in Belarus

von Elena Mühlichen

Nachdem Antanina Chumakova, die in der Geschichtswerkstatt Leonid Lewin in Minsk Referentin ist, uns fachkundig und detailreich durch die Wanderausstellung „Vernichtungsort Malyj Trostenez. Geschichte und Erinnerung“ im IBB in Minsk führte, fahren  wir aus dem Zentrum der stark sowjetisch geprägten Stadt und halten bald darauf an einem Fleckchen Grün. Ein mit Pappeln gesäumter Weg führt unscheinbar zu einem Ort, der vor einigen Jahrzehnten noch ein Zwangsarbeitslager war, man nennt ihn Malyj Trostenez. Doch auch damals soll es unscheinbar gewesen sein – einige Baracken wurden errichtet, Zäune soll es nicht gegeben haben, die europäischen Jüd*innen, die hierhin deportiert wurden, hätten durch die Sprachbarriere sowieso keine Chance gehabt, einen Fluchtversuch zu überleben, erzählt uns der belarussische Historiker Alexander Dalgowskij. Er führt uns an den Mahnmalen des Holocausts vorbei, die erst 2015 errichtet wurden, als öffentlich wurde, dass die vorherige Gedenkstätte am „falschen“ Ort stand. Alexander hat sich ausführlich mit dem Thema befasst und zeigt uns die historischen Fehler, die trotzdem auf den Tafeln zu finden sind: ungenaue Daten, zu hohe Opferzahlen, die Nichterwähnung von Ghettos. Es hätte schnell gehen müssen, meint Alexander, die historische Genauigkeit sei dabei auf der Strecke geblieben. Was auch erstaunt: Jüd*innen werden nicht unter den Opferkategorien genannt. Für Alexander ist ein Grund dafür, dass die Außerordentliche Kommission der Roten Armee keine jüdischen Opfer vorgefunden hatte – der Großteil der Lagerinsassen wurde 1944 erschossen und ihre Leichen verbrannt. Die wenigen Beweisfotos zeigen hauptsächlich belarussische Leichen.

Alexander erzählt unentwegt von den Verbrechen der Nationalsozialisten und von den Versuchen, diese historisch aufzubereiten, während er uns zu einem weiteren Ort der Vernichtung fährt: Blagowschtschina. Wir laufen über hölzerne Platten und Sand vorbei an halbfertigen Mauern – die Gedenkstätte hier ist gerade noch im Bau. Sie wird nach dem Entwurf des Architekten Leonid Levin gestaltet und soll am 29. Juni dieses Jahres mit Beteiligung des deutschen, österreichischen und belarusssischen Präsidenten eingeweiht werden.

Wir erreichen eine Waldlichtung. Wüssten wir nicht um die Tausende Jüd*innen, die hier zusammengetrieben und erschossen wurden, und hätten wir nicht die Baustelle hinter uns, würde auch sie nur einem, unscheinbaren, wenngleich seltsamen mit Gras überwachsenen Rechteck anmuten. Doch an einer Seite finden wir etwas Besonderes: gelbe, laminierte A4-Blätter, die an den Bäumen in der Nähe der Lichtung angebracht worden sind und die das tun, was die offiziellen Stellen hier bisher versäumt hatten: sie zeigen die Namen der Opfer. Verwandte der Ermordeten aus Wien haben diese Initiative namens „Malvine – Maly Trostinec erinnern“ gegründet. Ihr folgten weitere Spendenaufrufe und Initiativen aus Deutschland und Belarus, die sich auch heute noch für eine offenere Erinnerungskultur einsetzen. Dass in Blagowschtschina nun, im Jahre 2018, eine große Gedenkstätte gebaut wird und der dortige Militärübungsplatz verlegt wurde, ist ein wichtiger Schritt.

Mehr Informationen zur Gedenkstätte Malyj Trostenez zum Beispiel auf der Internetseite des IBB Belarus, Weiteres zur Initiative Malvine und dem österreichischen Verein IM-MER erfahrt ihr hier.

 

AK Osteuropa in Minsk: Treffen mit Taccjana Karatkevič, Präsidentschaftskandidatin bei den Wahlen 2015, Mitglied der zivilgesellschaftlichen Organisation Havary Praŭdu! (Sag die Wahrheit!)

von Marcel Schmeer

Für das Treffen mit Taccjana Karatkevič, Kandidatin bei der Präsidentschaftswahl im Jahr 2015, fanden wir uns nach einem ereignisreichen ersten Tag am Samstagmorgen in einem mondänen Kaffeehaus unweit der für Minsker Verhältnisse pittoresken Lenin-Allee ein. Nach einer kurzen Vorstellungsrunde gab uns Taccjana, unterstützt von drei weiteren Aktivisten aus der zivilgesellschaftlichen Bewegung Havary Praŭdu! (auf Deutsch etwa: Sag die Wahrheit!), einen Einblick in Geschichte, politische Ziele und Alltag ihrer Organisation.

Sag die Wahrheit! wurde im Frühjahr 2010 von dem belarussischen Dichter Uladzimir Njakljajeŭ gegründet und hat sich seither in vielfältiger Weise in die Politik des Landes eingemischt. So war eines der Gründungsziele der Bewegung, offensichtliche Missstände (wie Arbeitslosigkeit, unfreie Wahlen etc.) auch im öffentlichen Diskurs sichtbar zu machen und die Regierung von Aljaksandr Lukašėnka damit zu konfrontieren. Zu diesem Zweck wurde die Bevölkerung aufgerufen, mit dem Logo der Bewegung versehene Postkarten an offizielle Regierungsstellen zu versenden und hierdurch massenhaft auf Mängel, Probleme und Unzufriedenheiten aufmerksam zu machen. Einen weiteren Versuch, die Grenzen des öffentlich Sagbaren in Belarus zu verschieben, stellte darüber hinaus die Publikation eines Buches mit dem Titel „100 Gesichter der Arbeitslosigkeit“ im Juni 2010 dar, in dem etliche Einzelschicksale versammelt wurden.

Bei der Wahl im Herbst des Jahres 2010 trat Njakljajeŭ als Präsidentschaftskandidat für Sag die Wahrheit! an und konnte laut offiziellen Angaben 1,78% der Wählerstimmen erringen – Njakljajeŭ und seine Unterstützer haben diese Ergebnisse allerdings als manipuliert bezeichnet. Der Poet wurde kurz nach den Wahlen verhaftet und im Januar 2011 unter Hausarrest gestellt. Die Organisation sah sich seitdem massiver polizeilicher bzw. geheimdienstlicher Verfolgung ausgesetzt und wurde erst im vergangenen Jahr offiziell staatlich registriert. Erst hierdurch wurde es möglich, einen wichtigen Schritt aus der Grauzone der Illegalität zu machen, die ihre Arbeit seit 2011 nachhaltig geprägt hatte. Trotz der Repressionen war unsere Gesprächspartnerin Taccjana, die auch Mitglied der Belarussischen Sozialdemokratischen Partei (Hramada) ist, bei den Wahlen am 11. Oktober 2015 für Sag die Wahrheit! gegen Präsident Lukašėnka angetreten und hatte dabei laut offiziellem Endergebnis 4,43% der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigt; in Meinungsumfragen hatte sie allerdings noch kurz vor der Wahl einen Zuspruch von ca. 17,9 Prozent erreicht.

Eine anregende Diskussion entspann sich im Folgenden über soziale Probleme in Belarus, die politische Agenda der Aktivist*innen sowie die Möglichkeiten politischer wie medialer Einflussnahme in einem autoritär geführten Staat. Grundsätzlich, so betonte Taccjana, sei der revolutionäre Weg, wie er etwa in der Ukraine oder einigen Balkanstaaten beschritten wurde, für Weißrussland nicht zielführend. Stattdessen sollte zweckorientiert die Kooperation und der Dialog mit politischen Akteuren und Entscheidungsträgern gesucht werden. Diese Ausrichtung genieße auch einen breiten Rückhalt in der Bevölkerung – Umfragen zufolge würden sich 70% der Weißrussen umsichtige politische Veränderungen wünschen; auch der steigende Wähler*innenzuspruch für Sag die Wahrheit! bestärke sie in dieser Auffassung.

Konkrete Ziele der Bewegung seien etwa die Initiierung vorsichtig-liberaler Wirtschaftsreformen, die in Weißrussland nach dem Niedergang der Sowjetunion im Gegensatz zu anderen Transformationsstaaten weitgehend ausgeblieben waren. Dabei solle trotzdem das Primat sozialer Sicherheit gelten, der Schutz von Arbeitsplätzen stehe an erster Stelle. Gleichermaßen solle die Arbeitslosenversicherung reformiert werden, die Langzeitarbeitslose bislang mit einer Strafsteuer zusätzlich belaste. Während das Lukašėnka -Regime politisch größtenteils Rentner*innen und Veteran*innen anspreche, wolle Sag die Wahrheit! explizit eine jüngere Zielgruppe (vor allem die ca. 30 bis 45-Jährigen) für ihre politischen Reformprozesse begeistern, dabei aber keineswegs die ältere Generation aus den Augen verlieren. Insgesamt monierte Taccjana, dass der Regierungsstil Lukaschenkas sich hauptsächlich durch nicht eingehaltenen Versprechungen auszeichne. Angesprochen auf die ökologische Agenda der Bewegung, verneinte Taccjanazwar eine allgemeine umweltpolitische Ausrichtung, verwies allerdings auf einzelne regionale Initiativen, die sich etwa für eine bessere Qualität von (zum Teil nitratverseuchtem) Trinkwasser einsetzen würden. Auch was die Gleichstellung der Geschlechter angeht, sah Taccjananoch einigen Reformbedarf in der belarussischen Gesellschaft und Politik, äußerte aber die große Hoffnung, dass ihre Medienpräsenz und ihr zivilgesellschaftliches Engagement hier einen längerfristigen Veränderungsprozess anstoßen könnten.

Wie können nun derartigen Politikentwürfe im Rahmen eines autoritären Willkürstaats umgesetzt werden und mit welchen Problemen sehen sich die zivilgesellschaftlichen Aktivist*innen vor diesem Hintergrund konfrontiert? Taccjana berichtete zunächst, dass die offizielle Registrierung von Sag die Wahrheit! im Jahr 2017 einen Meilenstein in der Auseinandersetzung mit dem Regime dargestellt habe, sie sich aber durchaus bewusst sei, dass dies auch der langjährigen internationalen Unterstützung der Organisation zu verdanken sei. Andere oppositionelle Gruppierungen würden nach wie vor in der Illegalität agieren und seien entsprechend stärker staatlichen Repressionen ausgesetzt. So seien auch die Möglichkeiten zur politischen Einflussnahme stark eingeschränkt: der sozialistische Klassiker des „Eingabewesens“ bleibe etwa häufig ohne jegliche Folgen und Ängste vor Eigentums- und Jobverlust hätten in der belarussischen Bevölkerung sukzessive ein lähmendes Klima der Furcht etabliert. Kein Wunder also, so Taccjana, dass die Bereitschaft zur demokratisch-politischen Partizipation eher gering ausgeprägt sei. So werde insbesondere außerhalb der Hauptstadt Minsk wenig subtil großer Druck auf Gegenkandidat*innen bei regionalen Wahlen ausgeübt. Dennoch würden einige Menschen das Risiko auf sich nehmen und z. B. versuchen, kleinere Anliegen (etwa die Renovierung von Kindergärten) anzusprechen und politisch durchzusetzen.

Als letzten Aspekt der prekären Rahmenbedingungen für zivilgesellschaftliches Handeln in Belarus sprach Taccjana das belarussische Mediensystem und die stark gelenkte öffentliche Meinung an, die von Zensur geprägt sei und etwa auch „Verwarnungen“ kritischer Journalist*innen bis hin zu Schließungen ganzer Medieninstitute umfasse. Unter diesen Voraussetzungen sei etwa der Wahlkampf für Sag die Wahrheit! sehr stark abhängig von der – teilweise ebenfalls regulierten – Präsenz in den Sozialen Medien. Der Content solle dabei breit gestreut werden und explizit auch der Kontakt mit staatlichen Medien gesucht werden, um möglichst viele potentielle Wähler*innen zu erreichen. Taccjana selbst betreibt einen recht erfolgreichen Instagram-Account, auf dem sie auch einen ausführlichen Bericht zu unserem Gespräch eingestellt hat.

Zum Abschluss plädierte Taccjana noch einmal inständig dafür, dass Weißrussland weiterhin als Teil der europäischen Staatengemeinschaft wahrgenommen werden sollte. Im Idealfall solle in Zukunft die starke Fixierung auf Russland gelockert und eine zunehmende Öffnung nach Westen angestrebt werden: „Wir brauchen mehr Europa in Belarus!“ – Es bleibt zu hoffen, dass dies nicht nur ein frommer Wunsch bleibt und Organisationen wie Sag die Wahrheit! in Zukunft demokratische Reformprozesse in Belarus mit auf den Weg bringen können.

(Ihr könnt Taccjana hier auf Instagram folgen!)

Foto: Laurenz Hamel 2018

AK Osteuropa in Minsk: Treffen mit Olga, Dozentin am European College for Liberal Arts (ECLAB)

von Alina Käfer

Seinen Sitz hat das European College of Liberal Arts in Belarus (ECLAB) direkt an der Kastryčnickaja-Straße, einem ehemaligen Fabrik-Areal, die nun mit instagramtauglicher Street-Art und hippen Bars und Cafés gesäumt ist. In direkter Nachbarschaft: der Campus der Belarussischen Staatsuniversität. Doch zwischen den beiden Bildungseinrichtungen liegen Welten. Das ECLAB steht unter dem Motto „Providing democratic education“. Die in diesem Motto anklingende Kritik an der aktuellen belarussischen Staatsform und deren Bildungspolitik wird viel konkreter durch Statements von Alexander Adamiants, dem Direktor von ECLAB. So bemängelt er in dem Vorwort der ECLAB-Broschüre, dass „the government tightly controls state and private universities […] [and] the internal leadership structures [are] deeply reminiscent of Soviet-style authoritarianism“. Das ECLAB wurde deswegen 2014 aus dem Bestreben heraus gegründet, eine alternative Lernumgebung zu bieten und den Studierenden kritisches und eigenständigen Denken, Diskussionsfähigkeit, Empathie und Respekt für eine demokratische und produktive Gesellschaft zu vermitteln.

Eine der Dozentinnen ist Olga Shparaga. Die promovierte Philosophin lehrte wie viele DozentInnen von ECLAB an der Belarussischen Staatsuniversität, bis sie dort wegen Protestaktionen entlassen wurde. Wir treffen sie an einer Straßenkreuzung der Kastryčnickaja-Straße, wo sie uns zunächst etwas über die Straße, die dort beheimatete Kulturszene und von Projekten und Galerien junger kritischer Künstler erzählt, mit denen ECLAB manchmal zusammenarbeitet. Später nimmt sie uns mit in die Räumlichkeiten von ECLAB. Insgesamt drei Räume teilen sich die DozentInnen für ihre Kurse. Diese finden jeweils abends statt, da die meisten Studierenden von ECLAB tagsüber einem Beruf nachgehen oder an einer anderen, meist staatlichen Universität studieren.

Die Gründungsmitglieder, darunter auch Olga, waren davor bereits beim European Café aktiv, einer Vorlesungs- und Diskussionsveranstaltung über Themen wie Internationale Beziehungen, Massenmedien, Erinnerungskultur, kritische Kunst, Gender und viele andere in der belarussischen Öffentlichkeit weniger beachteten Themen mit ausländischen Experten zu diskutieren. Als immer mehr interessierte Bürger kamen (bis zu 250 Personen pro Veranstaltung), war klar, dass das Projekt in anderer Form aufgezogen werden muss. Die Themen des European Café spiegeln sich in der „Studiengängen“, genannten Concentrations, von ECLAB wieder: Public History, Contemporary Society Ethics and Politics, Gender Studies, Contemporary Art and Drama Studies, sowie Mass Culture and Mass Media. 2018 kam zudem das Arts, Sciences and Technologies-Programm hinzu, dass sich mit den Auswirkungen der Digitalisierung beschäftigt. Umgerechnet ca. 360€ kostet ein Jahr Studium am ECLAB, was ca. 10% einem durchschnittlichen belarussischen Jahreseinkommen entspricht. Das können sich nicht alle leisten. Viele kämen aus einem alternativ-kritisch geprägten Milieu, so was präge auch das Bedürfnis nach Wissen, findet Olga. Die Studierenden erhalten keinen offiziellen Abschluss, vergleichbar zu einem Bachelor oder Master, aber bekommen Credits, die sie zum Beispiel an der Partneruniversität in Vilnus anrechnen lassen können.

Ca. 300 Studierende haben schon am ECLAB studiert, fast alle davon sind zwischen 20-30 Jahre alt und haben bereits einen Abschluss einer belarissischen Universität. Sie haben einfach gemerkt, so Olga, dass Ihnen beim staatlichen Studium etwas gefehlt hat, und wollen das fehlende Wissen über Gesellschaft, Kunst und Kultur am ECLAB nachholen. Vier Fünftel der Studierenden sind weiblich. Warum? Olga Shparaga glaubt, dass das eine Art Auflehnung gegenüber dem Rollenbild der sowjetischen Zeit ist, in der Frauen am Herd standen und auf die Kinder aufpassen mussten. Zudem seien Geisteswissenschaften eher von niedrigerer Priorität gewesen, durch das Programm von ECLAB ist sozusagen eine doppelte Auflehnung möglich. Wir wollen von Olga Shparaga auch wissen, ob das ECLAB aufgrund seiner alternativen Bildung oder der Kritik von Alexander Adamiants Probleme mit dem Staat hat – wie manche der umliegenden Galerien, von denen sie uns zu Beginn des Treffens erzählt hat. Nein, sagt Olga fast ein wenig stolz, da gebe es keine Probleme. Manche der DozentInnen seien sogar gleichzeitig an einer staatlichen Universität beschäftigt. Zudem bietet das ECLAB kein Politologie-Studium an, was Olga ebenfalls als einen der Gründe vermutet, weswegen das ECLAB bisher unbehelligt seiner Tätigkeit nachgehen konnte. Außerdem herrsche derzeit in der belarussischen Politik eine Phase der Liberalisierung, die nach den Präsidentschaftswahlen 2010 begonnen hat.

In den Vorlesungsräumen bei Eclab, ganz rechts: Olga

Ein ehemaliges Fabrikgebäude gegenüber des Colleges in der Kastryčnickaja-Straße

Interessierte AK-Osteuropa-Mitglieder In den Vorlesungsräumen ECLABs

Bilder: Marcel Schmeer & Alina Käfer, 2018

AK Osteuropa in Minsk: Treffen mit Nasta vom unabhängigen Fernsehsender BELSAT

Vom 10. bis 14. Mai 2018 waren zehn Mitglieder des AK Osteuropa sowie ein ehemaliger Stipendiat in Minsk um sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie zivilgesellschaftliches Engagement in Belarus aussieht. An vier Tagen tauschten wir uns mit vielen interessanten und interessierten Aktivist*innen aus verschiedenen Bereichen aus: darunter waren Künstler*innen, Politiker*innen und Mitarbeitende von NGOs. Die Berichte zu den Treffen findet ihr hier auf dem Blog, als erstes berichten wir über unser

Treffen mit Nasta Reznikava, Journalistin bei BELSAT

von Paula Lange

Die aus Minsk stammende Journalistin Nasta Reznikava arbeitet beim polnisch-belarussischen Fernsehsender BELSAT, der 2007 vom polnischen Außenministerium in Warschau gegründet wurde. Die letzte Umfrage hat ergeben, dass in Belarus ca. 500 000 Menschen mindestens zweimal pro Woche BELSAT einschalten. Er ist der einzige unabhängige Fernsehsender in Belarus, der keiner Zensur unterliegt. Neben Nachrichten produziert der Sender vor allem Dokumentationen. Er wird von verschiedenen europäischen NGOs und Organisationen finanziert. Da es in Belarus verboten ist, mit ausländischen Sendern ohne Lizenz zusammenzuarbeiten, hat der Sender weiterhin seinen Sitz in Warschau. Trotzdem müssen die Mitarbeitenden regelmäßig mit einer Strafverfolgung rechnen, jeden Monat werden Mitarbeitende angeklagt und zu einer Geldstrafe verurteilt. Diese wird dann jedoch von dem Sender gezahlt. Einige Kameraleute wurden jedoch auch schon zu Gefängnisstrafen verurteilt. Nasta berichtet, dass die Arbeit von BELSAT ständig unter Beobachtung der Polizei steht.

Für BELSAT arbeitete Nasta auch schon mit verschiedenen deutschen Sendern wie dem Deutschlandfunk zusammen. Sie spricht neben Russisch auch perfekt Deutsch sowie belarussisch – das ist in Belarus eine Besonderheit, denn nur 13% der Bevölkerung kommunizieren auf belarussisch. Auch BELSAT strahlt Produktionen auf belarussisch aus. Nasta berichtet vor allem über Politik und soziale Probleme, dabei konzentriert sie sich vor allem auf die ländliche Gegend des Landes. Besonders die Berichterstattung über die Proteste im Jahr 2017 machte BELSAT sehr bekannt. 2017 protestierten landesweit Menschen gegen ein neues „Gesetz gegen Sozialschmarotzer“ sowie in Minsk gegen die geplante Bebauung eines Geländes, auf dem Massengräber von Opfern der „stalinistischen Säuberungen“ entdeckt worden waren. Nasta sieht ihre Arbeit jedoch nicht als oppositionell an, sondern möchte vor allem „freien, unabhängigen Journalismus“ machen. Außerdem ist es ihr wichtig, aus belarussisch arbeiten zu können.

Die Vermutung liegt nahe, dass besonders oppositionelle Parteien und Organisationen BELSAT nutzen möchten, um Aufmerksamkeit für ihre Arbeit und Aktionen zu bekommen, die ihnen im staatlichen Fernsehen verwehrt wird. Ob und in welchem Rahmen es oppositionelle Themen in das Programm schaffen, hängt laut Nasta aber vor allem von der Relevanz und der Größe der Aktion statt. Wenn von Seiten der Opposition, Aktionen gegen Probleme einfacher Menschen in ländlichen Regionen organisiert werden, ist Nasta aber meist mit einem Kamerateam vor Ort – das Thema liegt ihr sehr am Herzen. Auf die Frage, ob sie auch manchmal Angst habe, sagt sie trocken „Irgendwer muss diese Arbeit ja machen“.

 

 

 

 

Foto: Kristina Großehabig 2018