100 Bücher – kultureller Klebstoff für die russische Nation?

(Kristin Kretzschmar)

Aktuellen Meldungen zufolge plant der russische Präsident Putin die Ausarbeitung einer umfangreichen Bücherliste, deren Lektüre für jeden russischen Schüler verpflichtend werden soll. Ein solcher Lesekanon im Rahmen der Schulbildung erscheint zunächst wohlbekannt, doch diese Liste ist aufgrund von Umfang und Hintergrund der Idee doch außergewöhnlich.

Vor einer Woche erschien in der russischen Zeitung Nesawissimaja Gaseta ein programmatischer Artikel Putins zum Nationalitätenkonflikt. Hierbei erklärt Putin welche Rolle der russischen Kultur in der Beilegung dieses Konflikts zukommt. In dem umfangreichen Schriftstück erwähnt Putin auch die Zusammenstellung einer Liste mit 100 Büchern, die jeder Schüler gelesen haben muss. Allerdings soll dies nicht im Rahmen des Unterrichts geschehen, sondern im Selbststudium. Überprüfung erfolgt dann in Essays, Prüfungen oder Schülerwettbewerben. Putins Erklärung hierzu lautet: „Die Aufgabe des Bildungswesens besteht darin, einem jeden den absolut obligatorischen Umfang an humanitärem Wissen zu vermitteln, der die Grundlage der Selbstidentifizierung eines Volkes darstellt. In erster Linie muss es um eine Verstärkung der Rolle solcher Fächer wie russische Sprache, russische Literatur und russische Geschichte im Bildungsprozess gehen – natürlich im Kontext des gesamten Reichtums der nationalen Ideen und Kulturen“.  An anderer Stelle wird dann aber darauf verwiesen, dass mit dieser Liste die Dominanz der russischen Kultur erhalten werden soll. Hierbei gilt es zu bedenken, dass in Russland 160 verschiedene Völker leben. Kann in dieser Konstellation ein staatlich diktierter Lesekanon die Schüler auf die russische Nation einschwören? Die Sprache und Kultur die in diesen Büchern vermittelt werden, sollen laut Putin diese Völker zusammenhalten und letztendlich einen Staat bilden „in dem es keine nationalen Minderheiten gibt“.

Kritiker warnen: „Social engineering through state mandated literature: Nothing else that Putin has done has been quite so nakedly Soviet in its desire to manipulate the human intellect into docility.“  Was meint ihr: Social Engineering oder Erfüllung des Bildungsauftrages? Welche Erinnerungen habt ihr an den Lesekanon der Schule?

Eine Antwort auf „100 Bücher – kultureller Klebstoff für die russische Nation?“

  1. Die Idee mag ja schön und gut sein, die Frage nach der Intention ist allerdings eine ganz andere. Denke ich an unsere Schulzeit und die Lektüre im Deutschunterricht, ist klar erkennbar, dass wir zwar ausschließlich Literatur von deutschsprachigen Schriftstellern behandelt haben (im Deutschunterricht ja logisch), die sich jedoch nicht ausschließlich mit der deutschen Geschichte beschäftigten, sondern auch Weltniveau haben. Besonders im Gedächtnis geblieben sind mir „Das Leben des Galilei“ von Brecht, das die Verantwortung der Wissenschaft mit dem Hintergrund auf die Atombombenabwürfe auf Japan betrachtet, „Die Schachnovelle“ von Zweig, in der die Geschichte eines Gefangenen der Gestapo erzählt wird und auch die Zeit des Nationalsozialismus näher beleuchtet wird, sowie „Die Leiden des jungen Werthers“ von Goethe, die vor allem zur schöngeistigen Literatur gehört und von der Liebe erzählt. Ohne Frage, einige der im Unterricht durchgenommenen Werke haben mich geprägt und dazu beigetragen Interessen zu wecken und mich mit einigen Themen näher auseinander zu setzen. Das Ganze auf eine obligatorische Ebene zu bringen, die 100 Stück beabsichtigt, ist jedoch fraglich. In Russland war es bisher immer so, dass Schulkinder Pflichtlektüre in ihrer Freizeit selbstständig erarbeiten müssen. Das ist also nichts Neues. Die Anzahl der Werke ist jedoch eine ganz beachtliche. Und auch die Zeit, in der Putin diese „Neuerung“ publik macht scheint einen ganz besonderen Grund zu haben. Ich vermute den Grund seiner Intention nämlich unter ganz anderen Gesichtspunkten: die anstehenden Präsidentschaftswahlen in Russland. Viele junge, gebildete Russen sind des Putin-Systems schon längst überdrüssig und drücken ihre Abneigung durch, für russische Verhältnisse ungewohnt, große Demonstrationen aus. Man könnte also auch vermuten, dass die Maßnahme der „Erfüllung des Bildungsauftrages“ also vielleicht doch nur eine Art Imagekampagne ist, mit welcher Putin hofft seinen Gegnern, also den aufgeklärten gebildeten Russen, den Wind aus den Segeln zu nehmen und eben das Thema Bildung für sich zu beanspruchen.

    Wenn ich mir deinen Eintrag durchlese, Kristin, so beunruhigt mich eine Sache. Und zwar ist die Rede von „russische[r] Sprache, russische[r] Literatur und russische[r] Geschichte“. Eben weil Russland ein Vielvölkerstaat ist, sollte so ein Lesekanon doch vielfältiger gestaltet werden, von einer pluralistischen Sichtweise betrachtet werden, zeigen, dass es neben dem vermeintlich „russischen Volk“ auch andere Völker Russlands gibt, die nicht vergessen werden dürfen. Man könnte sogar behaupten, dass Putin vor allem einen nationalistischen Gedanken hat.

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