AK Osteuropa in Minsk: Gedenkstätten Malyj Trostenez und Blagowschtschina – Holocaust- Erinnerungskultur in Belarus

von Elena Mühlichen

Nachdem Antanina Chumakova, die in der Geschichtswerkstatt Leonid Lewin in Minsk Referentin ist, uns fachkundig und detailreich durch die Wanderausstellung „Vernichtungsort Malyj Trostenez. Geschichte und Erinnerung“ im IBB in Minsk führte, fahren  wir aus dem Zentrum der stark sowjetisch geprägten Stadt und halten bald darauf an einem Fleckchen Grün. Ein mit Pappeln gesäumter Weg führt unscheinbar zu einem Ort, der vor einigen Jahrzehnten noch ein Zwangsarbeitslager war, man nennt ihn Malyj Trostenez. Doch auch damals soll es unscheinbar gewesen sein – einige Baracken wurden errichtet, Zäune soll es nicht gegeben haben, die europäischen Jüd*innen, die hierhin deportiert wurden, hätten durch die Sprachbarriere sowieso keine Chance gehabt, einen Fluchtversuch zu überleben, erzählt uns der belarussische Historiker Alexander Dalgowskij. Er führt uns an den Mahnmalen des Holocausts vorbei, die erst 2015 errichtet wurden, als öffentlich wurde, dass die vorherige Gedenkstätte am „falschen“ Ort stand. Alexander hat sich ausführlich mit dem Thema befasst und zeigt uns die historischen Fehler, die trotzdem auf den Tafeln zu finden sind: ungenaue Daten, zu hohe Opferzahlen, die Nichterwähnung von Ghettos. Es hätte schnell gehen müssen, meint Alexander, die historische Genauigkeit sei dabei auf der Strecke geblieben. Was auch erstaunt: Jüd*innen werden nicht unter den Opferkategorien genannt. Für Alexander ist ein Grund dafür, dass die Außerordentliche Kommission der Roten Armee keine jüdischen Opfer vorgefunden hatte – der Großteil der Lagerinsassen wurde 1944 erschossen und ihre Leichen verbrannt. Die wenigen Beweisfotos zeigen hauptsächlich belarussische Leichen.

Alexander erzählt unentwegt von den Verbrechen der Nationalsozialisten und von den Versuchen, diese historisch aufzubereiten, während er uns zu einem weiteren Ort der Vernichtung fährt: Blagowschtschina. Wir laufen über hölzerne Platten und Sand vorbei an halbfertigen Mauern – die Gedenkstätte hier ist gerade noch im Bau. Sie wird nach dem Entwurf des Architekten Leonid Levin gestaltet und soll am 29. Juni dieses Jahres mit Beteiligung des deutschen, österreichischen und belarusssischen Präsidenten eingeweiht werden.

Wir erreichen eine Waldlichtung. Wüssten wir nicht um die Tausende Jüd*innen, die hier zusammengetrieben und erschossen wurden, und hätten wir nicht die Baustelle hinter uns, würde auch sie nur einem, unscheinbaren, wenngleich seltsamen mit Gras überwachsenen Rechteck anmuten. Doch an einer Seite finden wir etwas Besonderes: gelbe, laminierte A4-Blätter, die an den Bäumen in der Nähe der Lichtung angebracht worden sind und die das tun, was die offiziellen Stellen hier bisher versäumt hatten: sie zeigen die Namen der Opfer. Verwandte der Ermordeten aus Wien haben diese Initiative namens „Malvine – Maly Trostinec erinnern“ gegründet. Ihr folgten weitere Spendenaufrufe und Initiativen aus Deutschland und Belarus, die sich auch heute noch für eine offenere Erinnerungskultur einsetzen. Dass in Blagowschtschina nun, im Jahre 2018, eine große Gedenkstätte gebaut wird und der dortige Militärübungsplatz verlegt wurde, ist ein wichtiger Schritt.

Mehr Informationen zur Gedenkstätte Malyj Trostenez zum Beispiel auf der Internetseite des IBB Belarus, Weiteres zur Initiative Malvine und dem österreichischen Verein IM-MER erfahrt ihr hier.

 

AK Osteuropa in Minsk: Treffen mit Olga, Dozentin am European College for Liberal Arts (ECLAB)

von Alina Käfer

Seinen Sitz hat das European College of Liberal Arts in Belarus (ECLAB) direkt an der Kastryčnickaja-Straße, einem ehemaligen Fabrik-Areal, die nun mit instagramtauglicher Street-Art und hippen Bars und Cafés gesäumt ist. In direkter Nachbarschaft: der Campus der Belarussischen Staatsuniversität. Doch zwischen den beiden Bildungseinrichtungen liegen Welten. Das ECLAB steht unter dem Motto „Providing democratic education“. Die in diesem Motto anklingende Kritik an der aktuellen belarussischen Staatsform und deren Bildungspolitik wird viel konkreter durch Statements von Alexander Adamiants, dem Direktor von ECLAB. So bemängelt er in dem Vorwort der ECLAB-Broschüre, dass „the government tightly controls state and private universities […] [and] the internal leadership structures [are] deeply reminiscent of Soviet-style authoritarianism“. Das ECLAB wurde deswegen 2014 aus dem Bestreben heraus gegründet, eine alternative Lernumgebung zu bieten und den Studierenden kritisches und eigenständigen Denken, Diskussionsfähigkeit, Empathie und Respekt für eine demokratische und produktive Gesellschaft zu vermitteln.

Eine der Dozentinnen ist Olga Shparaga. Die promovierte Philosophin lehrte wie viele DozentInnen von ECLAB an der Belarussischen Staatsuniversität, bis sie dort wegen Protestaktionen entlassen wurde. Wir treffen sie an einer Straßenkreuzung der Kastryčnickaja-Straße, wo sie uns zunächst etwas über die Straße, die dort beheimatete Kulturszene und von Projekten und Galerien junger kritischer Künstler erzählt, mit denen ECLAB manchmal zusammenarbeitet. Später nimmt sie uns mit in die Räumlichkeiten von ECLAB. Insgesamt drei Räume teilen sich die DozentInnen für ihre Kurse. Diese finden jeweils abends statt, da die meisten Studierenden von ECLAB tagsüber einem Beruf nachgehen oder an einer anderen, meist staatlichen Universität studieren.

Die Gründungsmitglieder, darunter auch Olga, waren davor bereits beim European Café aktiv, einer Vorlesungs- und Diskussionsveranstaltung über Themen wie Internationale Beziehungen, Massenmedien, Erinnerungskultur, kritische Kunst, Gender und viele andere in der belarussischen Öffentlichkeit weniger beachteten Themen mit ausländischen Experten zu diskutieren. Als immer mehr interessierte Bürger kamen (bis zu 250 Personen pro Veranstaltung), war klar, dass das Projekt in anderer Form aufgezogen werden muss. Die Themen des European Café spiegeln sich in der „Studiengängen“, genannten Concentrations, von ECLAB wieder: Public History, Contemporary Society Ethics and Politics, Gender Studies, Contemporary Art and Drama Studies, sowie Mass Culture and Mass Media. 2018 kam zudem das Arts, Sciences and Technologies-Programm hinzu, dass sich mit den Auswirkungen der Digitalisierung beschäftigt. Umgerechnet ca. 360€ kostet ein Jahr Studium am ECLAB, was ca. 10% einem durchschnittlichen belarussischen Jahreseinkommen entspricht. Das können sich nicht alle leisten. Viele kämen aus einem alternativ-kritisch geprägten Milieu, so was präge auch das Bedürfnis nach Wissen, findet Olga. Die Studierenden erhalten keinen offiziellen Abschluss, vergleichbar zu einem Bachelor oder Master, aber bekommen Credits, die sie zum Beispiel an der Partneruniversität in Vilnus anrechnen lassen können.

Ca. 300 Studierende haben schon am ECLAB studiert, fast alle davon sind zwischen 20-30 Jahre alt und haben bereits einen Abschluss einer belarissischen Universität. Sie haben einfach gemerkt, so Olga, dass Ihnen beim staatlichen Studium etwas gefehlt hat, und wollen das fehlende Wissen über Gesellschaft, Kunst und Kultur am ECLAB nachholen. Vier Fünftel der Studierenden sind weiblich. Warum? Olga Shparaga glaubt, dass das eine Art Auflehnung gegenüber dem Rollenbild der sowjetischen Zeit ist, in der Frauen am Herd standen und auf die Kinder aufpassen mussten. Zudem seien Geisteswissenschaften eher von niedrigerer Priorität gewesen, durch das Programm von ECLAB ist sozusagen eine doppelte Auflehnung möglich. Wir wollen von Olga Shparaga auch wissen, ob das ECLAB aufgrund seiner alternativen Bildung oder der Kritik von Alexander Adamiants Probleme mit dem Staat hat – wie manche der umliegenden Galerien, von denen sie uns zu Beginn des Treffens erzählt hat. Nein, sagt Olga fast ein wenig stolz, da gebe es keine Probleme. Manche der DozentInnen seien sogar gleichzeitig an einer staatlichen Universität beschäftigt. Zudem bietet das ECLAB kein Politologie-Studium an, was Olga ebenfalls als einen der Gründe vermutet, weswegen das ECLAB bisher unbehelligt seiner Tätigkeit nachgehen konnte. Außerdem herrsche derzeit in der belarussischen Politik eine Phase der Liberalisierung, die nach den Präsidentschaftswahlen 2010 begonnen hat.

In den Vorlesungsräumen bei Eclab, ganz rechts: Olga
Ein ehemaliges Fabrikgebäude gegenüber des Colleges in der Kastryčnickaja-Straße
Interessierte AK-Osteuropa-Mitglieder In den Vorlesungsräumen ECLABs

Bilder: Marcel Schmeer & Alina Käfer, 2018

AK Osteuropa in Minsk: Treffen mit Nasta vom unabhängigen Fernsehsender BELSAT

Vom 10. bis 14. Mai 2018 waren zehn Mitglieder des AK Osteuropa sowie ein ehemaliger Stipendiat in Minsk um sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie zivilgesellschaftliches Engagement in Belarus aussieht. An vier Tagen tauschten wir uns mit vielen interessanten und interessierten Aktivist*innen aus verschiedenen Bereichen aus: darunter waren Künstler*innen, Politiker*innen und Mitarbeitende von NGOs. Die Berichte zu den Treffen findet ihr hier auf dem Blog, als erstes berichten wir über unser

Treffen mit Nasta Reznikava, Journalistin bei BELSAT

von Paula Lange

Die aus Minsk stammende Journalistin Nasta Reznikava arbeitet beim polnisch-belarussischen Fernsehsender BELSAT, der 2007 vom polnischen Außenministerium in Warschau gegründet wurde. Die letzte Umfrage hat ergeben, dass in Belarus ca. 500 000 Menschen mindestens zweimal pro Woche BELSAT einschalten. Er ist der einzige unabhängige Fernsehsender in Belarus, der keiner Zensur unterliegt. Neben Nachrichten produziert der Sender vor allem Dokumentationen. Er wird von verschiedenen europäischen NGOs und Organisationen finanziert. Da es in Belarus verboten ist, mit ausländischen Sendern ohne Lizenz zusammenzuarbeiten, hat der Sender weiterhin seinen Sitz in Warschau. Trotzdem müssen die Mitarbeitenden regelmäßig mit einer Strafverfolgung rechnen, jeden Monat werden Mitarbeitende angeklagt und zu einer Geldstrafe verurteilt. Diese wird dann jedoch von dem Sender gezahlt. Einige Kameraleute wurden jedoch auch schon zu Gefängnisstrafen verurteilt. Nasta berichtet, dass die Arbeit von BELSAT ständig unter Beobachtung der Polizei steht.

Für BELSAT arbeitete Nasta auch schon mit verschiedenen deutschen Sendern wie dem Deutschlandfunk zusammen. Sie spricht neben Russisch auch perfekt Deutsch sowie belarussisch – das ist in Belarus eine Besonderheit, denn nur 13% der Bevölkerung kommunizieren auf belarussisch. Auch BELSAT strahlt Produktionen auf belarussisch aus. Nasta berichtet vor allem über Politik und soziale Probleme, dabei konzentriert sie sich vor allem auf die ländliche Gegend des Landes. Besonders die Berichterstattung über die Proteste im Jahr 2017 machte BELSAT sehr bekannt. 2017 protestierten landesweit Menschen gegen ein neues „Gesetz gegen Sozialschmarotzer“ sowie in Minsk gegen die geplante Bebauung eines Geländes, auf dem Massengräber von Opfern der „stalinistischen Säuberungen“ entdeckt worden waren. Nasta sieht ihre Arbeit jedoch nicht als oppositionell an, sondern möchte vor allem „freien, unabhängigen Journalismus“ machen. Außerdem ist es ihr wichtig, aus belarussisch arbeiten zu können.

Die Vermutung liegt nahe, dass besonders oppositionelle Parteien und Organisationen BELSAT nutzen möchten, um Aufmerksamkeit für ihre Arbeit und Aktionen zu bekommen, die ihnen im staatlichen Fernsehen verwehrt wird. Ob und in welchem Rahmen es oppositionelle Themen in das Programm schaffen, hängt laut Nasta aber vor allem von der Relevanz und der Größe der Aktion statt. Wenn von Seiten der Opposition, Aktionen gegen Probleme einfacher Menschen in ländlichen Regionen organisiert werden, ist Nasta aber meist mit einem Kamerateam vor Ort – das Thema liegt ihr sehr am Herzen. Auf die Frage, ob sie auch manchmal Angst habe, sagt sie trocken „Irgendwer muss diese Arbeit ja machen“.

 

 

 

 

Foto: Kristina Großehabig 2018

 

 

„Eine erinnerungskulturelle Zerreißprobe: Wie das Ukrainische Institut für Nationale Erinnerung ein neues nationalukrainisches Narrativ konstruiert“ von Christian Hörbelt

Christian Hörbelt studierte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) im Master European Studies mit dem Schwerpunkt Osteuropa. Er ist Mitglied des AK Osteuropa der Friedrich-Ebert-Stiftung und hat für die Ukraine Analysen (Nr. 193 vom 13.12.2017) eine Zusammenfassung seiner spannenden Abschlussarbeit verfasst, auf die wir hier gerne hinweisen.

Der Text setzt sich mit der Konstruktion eines nationalukrainischen Narrativ seitens des Ukrainischen Instituts für Nationale Erinnerung auseinander. Was das für den Dialog mit Russland und den post-sowjetischen Republiken bedeutet, könnt ihr hier (auf den Seiten 11 bis 15) nachlesen.

Nino Katamadze – eine musikalische Perle Georgiens

(Anastasiya Kryvosheya)

Sie singt das, was sie fühlt. Nicht jedes Lied hat Wörter, manchmal sind es nur Geräusche, bedeutungslose Laute, man merkt nur plötzlich, dass man in einer magischen Welt auftaucht, voll von Emotionen und Gefühlen und wo die Zeit stehen bleibt …

So war es für mich, als ich Nino das erste Mal gehört habe, durch Meeresrauschen, ganz leise und harmonisch. Ich bin aus dem Zimmer hinausgegangen und der Musik gefolgt. Das war beim Jazz-Festival in Koktebel auf der Krim – ein Ereignis, das sich nicht vergessen lässt.

Einige Jahre später habe ich sie wieder gehört in meiner Heimatstadt Mykolayiv in der Ukraine, in einem modernen Theater im Hintergrund. Die Mischung aus Tanz und Musik war etwas unbeschreibliches. Alle Gäste haben atemlos zugeschaut.

Als Nicht-Georgier_in versteht man ihre Worte natürlich nicht – aber das stört gar nicht. Sie macht Musik des Spürens und somit verständlich für jede Nation: „Ich spüre und fühle diese Welt in meiner Sprache, und um die Emotionen auszudrücken, brauche ich diese Phonetik. Ich kann Emotionen nicht auf andere Sprachen übersetzen und sie dann singen – das würde sich schrecklich anhören.“

Nino Kathamadze wurde am 21. August 1972 in Adsharien, einer Südprovinz von Georgien, geboren. Sie hat Musik studiert und war anschließend als Jazz-Sängerin in unterschiedlichen Projekten tätig. 1994 gründete sie eine Wohltätigkeitsorganisation zur Hilfe für Behinderte und sozial beeinträchtigte Sänger und Schauspieler.

Ab 1999 trat sie mit der Gruppe „Insight“ auf, wodurch sie sowohl in ihrer Heimat als auch in Russland populär wurde. Nach ihrem Konzert bei den „Georgischen Tagen“ 2002 in England wurde sie auch in Europa bekannt. Das hat sich mir bestätigt, als ich auf Wikipedia nach ihr gesucht habe: Artikel gibt es nur auf einigen slawischen Sprachen, sowie auf Georgisch, Armenisch, Englisch und Französisch. Daraus kann man schließen, dass Katamadzes Musik eher im postsowjetischen Raum verbreitet ist. Auch Foreneinträge haben das bestätigt.

Auf jeden Fall bietet sich Nino Katamadze gut als Einstieg in die Welt und Kultur Georgiens an für denjenigen, dem dieser Teil Europas noch unbekannt ist. Und nicht nur musikalisch kann man von ihr inspirieren lassen – sondern auch von ihrem Lebensstil: «Das Wichtigste sind die einfachen Sachen … Es ist mir wichtig, in einem Haus in den Bergen mit einem rosigen Garten zu leben und barfuß zu gehen. Ich brauche kein Penthouse. Und nicht einmal eine Mikrowelle. Es gibt zwei Wege im Leben: „Ich will“ und „Ich liebe“. Man soll zwischen den beiden gehen. Darüber hat sich ein Mönch im 4. Jahrhundert geäußert: „Ich will das, was sein wird.“»