AK Osteuropa in Minsk: Gedenkstätten Malyj Trostenez und Blagowschtschina – Holocaust- Erinnerungskultur in Belarus

von Elena Mühlichen

Nachdem Antanina Chumakova, die in der Geschichtswerkstatt Leonid Lewin in Minsk Referentin ist, uns fachkundig und detailreich durch die Wanderausstellung „Vernichtungsort Malyj Trostenez. Geschichte und Erinnerung“ im IBB in Minsk führte, fahren  wir aus dem Zentrum der stark sowjetisch geprägten Stadt und halten bald darauf an einem Fleckchen Grün. Ein mit Pappeln gesäumter Weg führt unscheinbar zu einem Ort, der vor einigen Jahrzehnten noch ein Zwangsarbeitslager war, man nennt ihn Malyj Trostenez. Doch auch damals soll es unscheinbar gewesen sein – einige Baracken wurden errichtet, Zäune soll es nicht gegeben haben, die europäischen Jüd*innen, die hierhin deportiert wurden, hätten durch die Sprachbarriere sowieso keine Chance gehabt, einen Fluchtversuch zu überleben, erzählt uns der belarussische Historiker Alexander Dalgowskij. Er führt uns an den Mahnmalen des Holocausts vorbei, die erst 2015 errichtet wurden, als öffentlich wurde, dass die vorherige Gedenkstätte am „falschen“ Ort stand. Alexander hat sich ausführlich mit dem Thema befasst und zeigt uns die historischen Fehler, die trotzdem auf den Tafeln zu finden sind: ungenaue Daten, zu hohe Opferzahlen, die Nichterwähnung von Ghettos. Es hätte schnell gehen müssen, meint Alexander, die historische Genauigkeit sei dabei auf der Strecke geblieben. Was auch erstaunt: Jüd*innen werden nicht unter den Opferkategorien genannt. Für Alexander ist ein Grund dafür, dass die Außerordentliche Kommission der Roten Armee keine jüdischen Opfer vorgefunden hatte – der Großteil der Lagerinsassen wurde 1944 erschossen und ihre Leichen verbrannt. Die wenigen Beweisfotos zeigen hauptsächlich belarussische Leichen.

Alexander erzählt unentwegt von den Verbrechen der Nationalsozialisten und von den Versuchen, diese historisch aufzubereiten, während er uns zu einem weiteren Ort der Vernichtung fährt: Blagowschtschina. Wir laufen über hölzerne Platten und Sand vorbei an halbfertigen Mauern – die Gedenkstätte hier ist gerade noch im Bau. Sie wird nach dem Entwurf des Architekten Leonid Levin gestaltet und soll am 29. Juni dieses Jahres mit Beteiligung des deutschen, österreichischen und belarusssischen Präsidenten eingeweiht werden.

Wir erreichen eine Waldlichtung. Wüssten wir nicht um die Tausende Jüd*innen, die hier zusammengetrieben und erschossen wurden, und hätten wir nicht die Baustelle hinter uns, würde auch sie nur einem, unscheinbaren, wenngleich seltsamen mit Gras überwachsenen Rechteck anmuten. Doch an einer Seite finden wir etwas Besonderes: gelbe, laminierte A4-Blätter, die an den Bäumen in der Nähe der Lichtung angebracht worden sind und die das tun, was die offiziellen Stellen hier bisher versäumt hatten: sie zeigen die Namen der Opfer. Verwandte der Ermordeten aus Wien haben diese Initiative namens „Malvine – Maly Trostinec erinnern“ gegründet. Ihr folgten weitere Spendenaufrufe und Initiativen aus Deutschland und Belarus, die sich auch heute noch für eine offenere Erinnerungskultur einsetzen. Dass in Blagowschtschina nun, im Jahre 2018, eine große Gedenkstätte gebaut wird und der dortige Militärübungsplatz verlegt wurde, ist ein wichtiger Schritt.

Mehr Informationen zur Gedenkstätte Malyj Trostenez zum Beispiel auf der Internetseite des IBB Belarus, Weiteres zur Initiative Malvine und dem österreichischen Verein IM-MER erfahrt ihr hier.

 

Künstler*innen und Streetart in Minsk – ein Balanceakt.

von Laurenz Hamel

2012 hat alles mit einem Katalog angefangen. Aleh ist der Gründer und Herausgeber der Belarussischen Streetart-Kunstzeitschrift „Signal Art Magazin“. Laut Aleh ist diese Kunstzeitschrift die erste in Belarus und markiert den Versuch, Menschen für Kunst zu begeistern und insbesondere Streetart den Belarussen näher zu bringen. In diesem Katalog werden viele Werke von Streetart in Belarus gezeigt und diskutiert. Mittlerweile gibt es auch die Crowdfundingplatform mustact.by, auf der Geld für verschiedenste Kunstprojekte gesammelt wird. Alehs Ziel als Streetart-Künstler und Aktivist ist es, die Menschen mit Hilfe der Kunst zum Nachdenken zu bewegen. Er sagt: „Minsk gehört nicht den lokalen Autoritäten, sondern den Menschen“.  Am Anfang, so Aleh, war man noch etwas ängstlich mit sog. Murals, wie Street-Art-Bilder genannt werden. Man praktizierte Selbstzensur, doch mit der Zeit und auch mit wachsender Beachtung hat man Mut geschöpft, künstlerisch Missstände in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft zu thematisieren. „Das belarussische Bildungsministerium hat beispielsweise einige bedeutende Persönlichkeiten, die nicht zur Staatsideologie passen, aus den Geschichtsbüchern getilgt und wir haben diesen Personen in Form von Murals uns Standstills wieder ein Gesicht gegeben und es wurden sogar einige Journalisten auf unsere Aktion aufmerksam“, so Aleh. So hat man sogar bei einem Älteren, noch sowjetisch geprägten Publikum Interesse erweckt und eine Diskussion ausgelöst. In Belarus ist diese Art der Meinungsäußerung, diese Art Kunst zu schaffen nicht nur neu, sondern nach wie vor mit einem großen Risiko verbunden: Wie kritisch darf man sein ? Wie kann man eine kritische Botschaft abstrakt formulieren ohne eine Verhaftung zu riskieren. Nie wurde der formelle Weg bei der Beantragung der Flächen für Street-Art Projekte gewählt. Vielmehr konnte man über Bekannte und Sympathisanten Kontakte zu bestimmten Personen in den zuständigen Behörden gewinnen. Dabei spielte auch eine teilweise positive Berichterstattung über Street Art Projekte in der Presse eine Rolle. Aleh fügt hinzu, dass deswegen die Kooperation mit Journalisten so wichtig ist. Man möchte Aufmerksamkeit erzeugen ohne übermäßig anzuecken! Man könnte dies als Balanceakt oder als einen Schutzversuch durch erzeugte Öffentlichkeit bezeichnen, doch Aleh nennt es ein Spiel. „Street-Art muss eine Botschaft transportieren“, meint Aleh und zeigt während unserer Führung durch die Oktjaberskaya auf eine Reihe von Murals von brasilianischen Künstlern, die im Rahmen einer Kooperation der Minsker Administration mit der Brasilianischen Botschaft entstanden sind. „Diese Murals zeigen Innere Migration, denn wenn du dich nicht mit aktuellen politischen und gesellschaftlichen Themen künstlerisch auseinandersetzen darfst, oder dies nicht erwünscht ist, dann flüchtest du eben entweder ins Sakrale oder brasilianische Leichtigkeit, aber so etwas ist nicht Streetart“, betont Aleh. Auf der Oktjaberskaja, man könnte sagen die „Hipstarstraße“ von Minsk, die voll von Street Art ist, fühlt man sich fast etwas wie in Berlin. Doch es lassen sich keine politisch- oder gesellschaftliche kritischen Murals finden.

(unkritische) Streetart in der Kastryčnickaja-Straße, Minsk (Foto: Laurenz Hamel, 2018)
Streetart über Lenin in der Kastryčnickaja-Straße, Minsk (Foto: Laurenz Hamel, 2018)
AK-Mitglieder bestaunen Streetart in der Kastryčnickaja-Straße, Minsk (Foto: Flora Antoniazzi, 2018)
Streetart zwischen Tradition und Moderne? (Foto: Flora Antoniazzi, 2018)

AK Osteuropa in Minsk: Treffen mit Taccjana Karatkevič, Präsidentschaftskandidatin bei den Wahlen 2015, Mitglied der zivilgesellschaftlichen Organisation Havary Praŭdu! (Sag die Wahrheit!)

von Marcel Schmeer

Für das Treffen mit Taccjana Karatkevič, Kandidatin bei der Präsidentschaftswahl im Jahr 2015, fanden wir uns nach einem ereignisreichen ersten Tag am Samstagmorgen in einem mondänen Kaffeehaus unweit der für Minsker Verhältnisse pittoresken Lenin-Allee ein. Nach einer kurzen Vorstellungsrunde gab uns Taccjana, unterstützt von drei weiteren Aktivisten aus der zivilgesellschaftlichen Bewegung Havary Praŭdu! (auf Deutsch etwa: Sag die Wahrheit!), einen Einblick in Geschichte, politische Ziele und Alltag ihrer Organisation.

Sag die Wahrheit! wurde im Frühjahr 2010 von dem belarussischen Dichter Uladzimir Njakljajeŭ gegründet und hat sich seither in vielfältiger Weise in die Politik des Landes eingemischt. So war eines der Gründungsziele der Bewegung, offensichtliche Missstände (wie Arbeitslosigkeit, unfreie Wahlen etc.) auch im öffentlichen Diskurs sichtbar zu machen und die Regierung von Aljaksandr Lukašėnka damit zu konfrontieren. Zu diesem Zweck wurde die Bevölkerung aufgerufen, mit dem Logo der Bewegung versehene Postkarten an offizielle Regierungsstellen zu versenden und hierdurch massenhaft auf Mängel, Probleme und Unzufriedenheiten aufmerksam zu machen. Einen weiteren Versuch, die Grenzen des öffentlich Sagbaren in Belarus zu verschieben, stellte darüber hinaus die Publikation eines Buches mit dem Titel „100 Gesichter der Arbeitslosigkeit“ im Juni 2010 dar, in dem etliche Einzelschicksale versammelt wurden.

Bei der Wahl im Herbst des Jahres 2010 trat Njakljajeŭ als Präsidentschaftskandidat für Sag die Wahrheit! an und konnte laut offiziellen Angaben 1,78% der Wählerstimmen erringen – Njakljajeŭ und seine Unterstützer haben diese Ergebnisse allerdings als manipuliert bezeichnet. Der Poet wurde kurz nach den Wahlen verhaftet und im Januar 2011 unter Hausarrest gestellt. Die Organisation sah sich seitdem massiver polizeilicher bzw. geheimdienstlicher Verfolgung ausgesetzt und wurde erst im vergangenen Jahr offiziell staatlich registriert. Erst hierdurch wurde es möglich, einen wichtigen Schritt aus der Grauzone der Illegalität zu machen, die ihre Arbeit seit 2011 nachhaltig geprägt hatte. Trotz der Repressionen war unsere Gesprächspartnerin Taccjana, die auch Mitglied der Belarussischen Sozialdemokratischen Partei (Hramada) ist, bei den Wahlen am 11. Oktober 2015 für Sag die Wahrheit! gegen Präsident Lukašėnka angetreten und hatte dabei laut offiziellem Endergebnis 4,43% der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigt; in Meinungsumfragen hatte sie allerdings noch kurz vor der Wahl einen Zuspruch von ca. 17,9 Prozent erreicht.

Eine anregende Diskussion entspann sich im Folgenden über soziale Probleme in Belarus, die politische Agenda der Aktivist*innen sowie die Möglichkeiten politischer wie medialer Einflussnahme in einem autoritär geführten Staat. Grundsätzlich, so betonte Taccjana, sei der revolutionäre Weg, wie er etwa in der Ukraine oder einigen Balkanstaaten beschritten wurde, für Weißrussland nicht zielführend. Stattdessen sollte zweckorientiert die Kooperation und der Dialog mit politischen Akteuren und Entscheidungsträgern gesucht werden. Diese Ausrichtung genieße auch einen breiten Rückhalt in der Bevölkerung – Umfragen zufolge würden sich 70% der Weißrussen umsichtige politische Veränderungen wünschen; auch der steigende Wähler*innenzuspruch für Sag die Wahrheit! bestärke sie in dieser Auffassung.

Konkrete Ziele der Bewegung seien etwa die Initiierung vorsichtig-liberaler Wirtschaftsreformen, die in Weißrussland nach dem Niedergang der Sowjetunion im Gegensatz zu anderen Transformationsstaaten weitgehend ausgeblieben waren. Dabei solle trotzdem das Primat sozialer Sicherheit gelten, der Schutz von Arbeitsplätzen stehe an erster Stelle. Gleichermaßen solle die Arbeitslosenversicherung reformiert werden, die Langzeitarbeitslose bislang mit einer Strafsteuer zusätzlich belaste. Während das Lukašėnka -Regime politisch größtenteils Rentner*innen und Veteran*innen anspreche, wolle Sag die Wahrheit! explizit eine jüngere Zielgruppe (vor allem die ca. 30 bis 45-Jährigen) für ihre politischen Reformprozesse begeistern, dabei aber keineswegs die ältere Generation aus den Augen verlieren. Insgesamt monierte Taccjana, dass der Regierungsstil Lukaschenkas sich hauptsächlich durch nicht eingehaltenen Versprechungen auszeichne. Angesprochen auf die ökologische Agenda der Bewegung, verneinte Taccjanazwar eine allgemeine umweltpolitische Ausrichtung, verwies allerdings auf einzelne regionale Initiativen, die sich etwa für eine bessere Qualität von (zum Teil nitratverseuchtem) Trinkwasser einsetzen würden. Auch was die Gleichstellung der Geschlechter angeht, sah Taccjananoch einigen Reformbedarf in der belarussischen Gesellschaft und Politik, äußerte aber die große Hoffnung, dass ihre Medienpräsenz und ihr zivilgesellschaftliches Engagement hier einen längerfristigen Veränderungsprozess anstoßen könnten.

Wie können nun derartigen Politikentwürfe im Rahmen eines autoritären Willkürstaats umgesetzt werden und mit welchen Problemen sehen sich die zivilgesellschaftlichen Aktivist*innen vor diesem Hintergrund konfrontiert? Taccjana berichtete zunächst, dass die offizielle Registrierung von Sag die Wahrheit! im Jahr 2017 einen Meilenstein in der Auseinandersetzung mit dem Regime dargestellt habe, sie sich aber durchaus bewusst sei, dass dies auch der langjährigen internationalen Unterstützung der Organisation zu verdanken sei. Andere oppositionelle Gruppierungen würden nach wie vor in der Illegalität agieren und seien entsprechend stärker staatlichen Repressionen ausgesetzt. So seien auch die Möglichkeiten zur politischen Einflussnahme stark eingeschränkt: der sozialistische Klassiker des „Eingabewesens“ bleibe etwa häufig ohne jegliche Folgen und Ängste vor Eigentums- und Jobverlust hätten in der belarussischen Bevölkerung sukzessive ein lähmendes Klima der Furcht etabliert. Kein Wunder also, so Taccjana, dass die Bereitschaft zur demokratisch-politischen Partizipation eher gering ausgeprägt sei. So werde insbesondere außerhalb der Hauptstadt Minsk wenig subtil großer Druck auf Gegenkandidat*innen bei regionalen Wahlen ausgeübt. Dennoch würden einige Menschen das Risiko auf sich nehmen und z. B. versuchen, kleinere Anliegen (etwa die Renovierung von Kindergärten) anzusprechen und politisch durchzusetzen.

Als letzten Aspekt der prekären Rahmenbedingungen für zivilgesellschaftliches Handeln in Belarus sprach Taccjana das belarussische Mediensystem und die stark gelenkte öffentliche Meinung an, die von Zensur geprägt sei und etwa auch „Verwarnungen“ kritischer Journalist*innen bis hin zu Schließungen ganzer Medieninstitute umfasse. Unter diesen Voraussetzungen sei etwa der Wahlkampf für Sag die Wahrheit! sehr stark abhängig von der – teilweise ebenfalls regulierten – Präsenz in den Sozialen Medien. Der Content solle dabei breit gestreut werden und explizit auch der Kontakt mit staatlichen Medien gesucht werden, um möglichst viele potentielle Wähler*innen zu erreichen. Taccjana selbst betreibt einen recht erfolgreichen Instagram-Account, auf dem sie auch einen ausführlichen Bericht zu unserem Gespräch eingestellt hat.

Zum Abschluss plädierte Taccjana noch einmal inständig dafür, dass Weißrussland weiterhin als Teil der europäischen Staatengemeinschaft wahrgenommen werden sollte. Im Idealfall solle in Zukunft die starke Fixierung auf Russland gelockert und eine zunehmende Öffnung nach Westen angestrebt werden: „Wir brauchen mehr Europa in Belarus!“ – Es bleibt zu hoffen, dass dies nicht nur ein frommer Wunsch bleibt und Organisationen wie Sag die Wahrheit! in Zukunft demokratische Reformprozesse in Belarus mit auf den Weg bringen können.

(Ihr könnt Taccjana hier auf Instagram folgen!)

Foto: Laurenz Hamel 2018

AK Osteuropa in Minsk: Treffen mit Olga, Dozentin am European College for Liberal Arts (ECLAB)

von Alina Käfer

Seinen Sitz hat das European College of Liberal Arts in Belarus (ECLAB) direkt an der Kastryčnickaja-Straße, einem ehemaligen Fabrik-Areal, die nun mit instagramtauglicher Street-Art und hippen Bars und Cafés gesäumt ist. In direkter Nachbarschaft: der Campus der Belarussischen Staatsuniversität. Doch zwischen den beiden Bildungseinrichtungen liegen Welten. Das ECLAB steht unter dem Motto „Providing democratic education“. Die in diesem Motto anklingende Kritik an der aktuellen belarussischen Staatsform und deren Bildungspolitik wird viel konkreter durch Statements von Alexander Adamiants, dem Direktor von ECLAB. So bemängelt er in dem Vorwort der ECLAB-Broschüre, dass „the government tightly controls state and private universities […] [and] the internal leadership structures [are] deeply reminiscent of Soviet-style authoritarianism“. Das ECLAB wurde deswegen 2014 aus dem Bestreben heraus gegründet, eine alternative Lernumgebung zu bieten und den Studierenden kritisches und eigenständigen Denken, Diskussionsfähigkeit, Empathie und Respekt für eine demokratische und produktive Gesellschaft zu vermitteln.

Eine der Dozentinnen ist Olga Shparaga. Die promovierte Philosophin lehrte wie viele DozentInnen von ECLAB an der Belarussischen Staatsuniversität, bis sie dort wegen Protestaktionen entlassen wurde. Wir treffen sie an einer Straßenkreuzung der Kastryčnickaja-Straße, wo sie uns zunächst etwas über die Straße, die dort beheimatete Kulturszene und von Projekten und Galerien junger kritischer Künstler erzählt, mit denen ECLAB manchmal zusammenarbeitet. Später nimmt sie uns mit in die Räumlichkeiten von ECLAB. Insgesamt drei Räume teilen sich die DozentInnen für ihre Kurse. Diese finden jeweils abends statt, da die meisten Studierenden von ECLAB tagsüber einem Beruf nachgehen oder an einer anderen, meist staatlichen Universität studieren.

Die Gründungsmitglieder, darunter auch Olga, waren davor bereits beim European Café aktiv, einer Vorlesungs- und Diskussionsveranstaltung über Themen wie Internationale Beziehungen, Massenmedien, Erinnerungskultur, kritische Kunst, Gender und viele andere in der belarussischen Öffentlichkeit weniger beachteten Themen mit ausländischen Experten zu diskutieren. Als immer mehr interessierte Bürger kamen (bis zu 250 Personen pro Veranstaltung), war klar, dass das Projekt in anderer Form aufgezogen werden muss. Die Themen des European Café spiegeln sich in der „Studiengängen“, genannten Concentrations, von ECLAB wieder: Public History, Contemporary Society Ethics and Politics, Gender Studies, Contemporary Art and Drama Studies, sowie Mass Culture and Mass Media. 2018 kam zudem das Arts, Sciences and Technologies-Programm hinzu, dass sich mit den Auswirkungen der Digitalisierung beschäftigt. Umgerechnet ca. 360€ kostet ein Jahr Studium am ECLAB, was ca. 10% einem durchschnittlichen belarussischen Jahreseinkommen entspricht. Das können sich nicht alle leisten. Viele kämen aus einem alternativ-kritisch geprägten Milieu, so was präge auch das Bedürfnis nach Wissen, findet Olga. Die Studierenden erhalten keinen offiziellen Abschluss, vergleichbar zu einem Bachelor oder Master, aber bekommen Credits, die sie zum Beispiel an der Partneruniversität in Vilnus anrechnen lassen können.

Ca. 300 Studierende haben schon am ECLAB studiert, fast alle davon sind zwischen 20-30 Jahre alt und haben bereits einen Abschluss einer belarissischen Universität. Sie haben einfach gemerkt, so Olga, dass Ihnen beim staatlichen Studium etwas gefehlt hat, und wollen das fehlende Wissen über Gesellschaft, Kunst und Kultur am ECLAB nachholen. Vier Fünftel der Studierenden sind weiblich. Warum? Olga Shparaga glaubt, dass das eine Art Auflehnung gegenüber dem Rollenbild der sowjetischen Zeit ist, in der Frauen am Herd standen und auf die Kinder aufpassen mussten. Zudem seien Geisteswissenschaften eher von niedrigerer Priorität gewesen, durch das Programm von ECLAB ist sozusagen eine doppelte Auflehnung möglich. Wir wollen von Olga Shparaga auch wissen, ob das ECLAB aufgrund seiner alternativen Bildung oder der Kritik von Alexander Adamiants Probleme mit dem Staat hat – wie manche der umliegenden Galerien, von denen sie uns zu Beginn des Treffens erzählt hat. Nein, sagt Olga fast ein wenig stolz, da gebe es keine Probleme. Manche der DozentInnen seien sogar gleichzeitig an einer staatlichen Universität beschäftigt. Zudem bietet das ECLAB kein Politologie-Studium an, was Olga ebenfalls als einen der Gründe vermutet, weswegen das ECLAB bisher unbehelligt seiner Tätigkeit nachgehen konnte. Außerdem herrsche derzeit in der belarussischen Politik eine Phase der Liberalisierung, die nach den Präsidentschaftswahlen 2010 begonnen hat.

In den Vorlesungsräumen bei Eclab, ganz rechts: Olga
Ein ehemaliges Fabrikgebäude gegenüber des Colleges in der Kastryčnickaja-Straße
Interessierte AK-Osteuropa-Mitglieder In den Vorlesungsräumen ECLABs

Bilder: Marcel Schmeer & Alina Käfer, 2018

AK Osteuropa in Minsk: Treffen mit Nasta vom unabhängigen Fernsehsender BELSAT

Vom 10. bis 14. Mai 2018 waren zehn Mitglieder des AK Osteuropa sowie ein ehemaliger Stipendiat in Minsk um sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie zivilgesellschaftliches Engagement in Belarus aussieht. An vier Tagen tauschten wir uns mit vielen interessanten und interessierten Aktivist*innen aus verschiedenen Bereichen aus: darunter waren Künstler*innen, Politiker*innen und Mitarbeitende von NGOs. Die Berichte zu den Treffen findet ihr hier auf dem Blog, als erstes berichten wir über unser

Treffen mit Nasta Reznikava, Journalistin bei BELSAT

von Paula Lange

Die aus Minsk stammende Journalistin Nasta Reznikava arbeitet beim polnisch-belarussischen Fernsehsender BELSAT, der 2007 vom polnischen Außenministerium in Warschau gegründet wurde. Die letzte Umfrage hat ergeben, dass in Belarus ca. 500 000 Menschen mindestens zweimal pro Woche BELSAT einschalten. Er ist der einzige unabhängige Fernsehsender in Belarus, der keiner Zensur unterliegt. Neben Nachrichten produziert der Sender vor allem Dokumentationen. Er wird von verschiedenen europäischen NGOs und Organisationen finanziert. Da es in Belarus verboten ist, mit ausländischen Sendern ohne Lizenz zusammenzuarbeiten, hat der Sender weiterhin seinen Sitz in Warschau. Trotzdem müssen die Mitarbeitenden regelmäßig mit einer Strafverfolgung rechnen, jeden Monat werden Mitarbeitende angeklagt und zu einer Geldstrafe verurteilt. Diese wird dann jedoch von dem Sender gezahlt. Einige Kameraleute wurden jedoch auch schon zu Gefängnisstrafen verurteilt. Nasta berichtet, dass die Arbeit von BELSAT ständig unter Beobachtung der Polizei steht.

Für BELSAT arbeitete Nasta auch schon mit verschiedenen deutschen Sendern wie dem Deutschlandfunk zusammen. Sie spricht neben Russisch auch perfekt Deutsch sowie belarussisch – das ist in Belarus eine Besonderheit, denn nur 13% der Bevölkerung kommunizieren auf belarussisch. Auch BELSAT strahlt Produktionen auf belarussisch aus. Nasta berichtet vor allem über Politik und soziale Probleme, dabei konzentriert sie sich vor allem auf die ländliche Gegend des Landes. Besonders die Berichterstattung über die Proteste im Jahr 2017 machte BELSAT sehr bekannt. 2017 protestierten landesweit Menschen gegen ein neues „Gesetz gegen Sozialschmarotzer“ sowie in Minsk gegen die geplante Bebauung eines Geländes, auf dem Massengräber von Opfern der „stalinistischen Säuberungen“ entdeckt worden waren. Nasta sieht ihre Arbeit jedoch nicht als oppositionell an, sondern möchte vor allem „freien, unabhängigen Journalismus“ machen. Außerdem ist es ihr wichtig, aus belarussisch arbeiten zu können.

Die Vermutung liegt nahe, dass besonders oppositionelle Parteien und Organisationen BELSAT nutzen möchten, um Aufmerksamkeit für ihre Arbeit und Aktionen zu bekommen, die ihnen im staatlichen Fernsehen verwehrt wird. Ob und in welchem Rahmen es oppositionelle Themen in das Programm schaffen, hängt laut Nasta aber vor allem von der Relevanz und der Größe der Aktion statt. Wenn von Seiten der Opposition, Aktionen gegen Probleme einfacher Menschen in ländlichen Regionen organisiert werden, ist Nasta aber meist mit einem Kamerateam vor Ort – das Thema liegt ihr sehr am Herzen. Auf die Frage, ob sie auch manchmal Angst habe, sagt sie trocken „Irgendwer muss diese Arbeit ja machen“.

 

 

 

 

Foto: Kristina Großehabig 2018