Besuch der multiethnischen Nicht-Regierungsorganisation Centre for Social Initiatives NADEZ

(Jana Hartmann)

Shuto ist die größte Roma-Siedlung der Welt und wir trafen dort Klara Misel Ilieva, die Projektleiterin der Nicht-Regierungsorganisation C.S.I. NADEZ, die uns von ihrem Projekt und der Siedlung berichtete. Außerdem war Kristian Cierpka dabei, der seit kurzem beim Projekt mitarbeitet und auf diese Weise sein Freiwilliges Soziales Jahr im Rahmen des Projektes Schüler helfen Leben macht. Die Organisation beschäftigt 4-5 hauptamtliche Kräfte und zwei Personen in Teilzeit. Außerdem arbeiten immer wieder Freiwillige mit.

Bibliothek und Raum für Schülerbetreuung bei NADEZ. Bild: Michael Meissner

Der Fokus der Organisation liegt auf der Arbeit mit Kindern und dementsprechend erfahren wir über ihre Situation auch am meisten. In den Schulen zeigen sich viele der interethnischen Konflikte des Landes sehr deutlich und die Lage der Kinder kann als Ausblick auf das gesehen werden, was im kommenden Jahrzehnt Mazedoniens junge Gegenwart sein wird. Die Situation der Roma ist durch ihren Status als eine der ethnischen Minderheiten des Landes besonders schwierig. Es gibt verschiedene Probleme, die sich im Leben in Shuto zeigen – das größte ist Klara Misel Ilieva zufolge, dass der Analphabetismus weit verbreitet ist. Der Analphabetismus ist leider selbst unter den Schulkindern nicht ungewöhnlich, obwohl sie in der Schule natürlich eigentlich Lesen und Schreiben lernen müssten. Doch die Kinder stehen vor der Schwierigkeit, dass sie zuhause Roma sprechen und in der Schule dann auf Mazedonisch unterrichtet werden, sie also schon bei der absoluten Grundlegung von Bildung nicht in ihrer Muttersprache lernen. Da im mazedonischen Schulsystem niemand sitzenbleiben kann, werden einmal entstandene Lücken immer größer, ohne dass sich die Chance bietet, den nicht verstandenen Stoff nachzuholen. Die Schulen sind außerdem entweder nach Ethnien getrennt, oder der Unterricht findet in Schichten statt, so dass selbst eine Schule, die sich multiethnisch nennt, so gestaltet ist, dass sich die Kinder nicht interethnisch begegnen. Klara Misel Ilieva sagt dazu, dass auch die Vorstellungen der Eltern problematisch sind, da diese es lieber haben, wenn ihre Kinder in einer reinen Roma-Schule unterrichtet werden.

NADEZ verfolgt immer wieder Projekte, um die Kinder besonders in ihrer Schullaufbahn zu unterstützen. Aktuell werden beispielsweise die Schulmaterialien der Kinder bezahlt, die sie neben den Schulbüchern brauchen (die alle Kinder gestellt bekommen). Außerdem bekommen sie ein Frühstück bezahlt, weil sie ansonsten neben den übrigen Kindern sitzen und denen beim Essen zugucken würden. Es können maximal 60 Kinder unterstützt werden. Da aber nicht immer alle kommen, kann es auch sein, dass Kinder, die nicht in die Gruppe der ausgewählten 60 gehören, am Essen teilnehmen. Durch die geringen finanziellen Mittel, die der Organisation zur Verfügung stehen, ist eine derartige Einschränkung notwendig. Es ist allerdings nicht immer ganz einfach, den Leuten zu erklären, welche Kinder in das Projekt aufgenommen worden sind und welche nicht. In den Räumlichkeiten der Organisation wird die Möglichkeit gegeben, die Schularbeiten zu machen und ältere SchülerInnen geben den jüngeren Nachhilfe. Darüber hinaus fließen auch humanitäre Hilfsgelder in die Arbeit, mit denen die Kinder unterstützt werden – konkret kann das heißen, dass sie Schuhe und warme Kleider bekommen, denn im Winter ist es so kalt, dass die Kinder mit der Kleidung, die sie sonst hätten (oder besser: nicht hätten), den Weg zur Schule überhaupt nicht bewältigen könnten. Leider endet das aktuelle Projekt im kommenden Februar, da sich dann die Mittel erschöpft haben werden. Besonders ungünstig ist, dass das mitten im Schuljahr sein wird, so dass man sich natürlich bemüht, neue Geldgeber zu finden. Die Finanzierung der Arbeit in Shuto wird generell im Winter schwieriger, weil sich durch das Wetter die Kosten stark erhöhen – die Räume müssen beheizt werden und es gibt kein fließendes Wasser, weil der Wasserdruck nicht stark genug ist, um es auf den Berg zu pumpen, auf dem das Gelände von NADEZ liegt.

Die Ursprungsidee des Projektes war es, sich um die Kinder zu kümmern. Doch sehr bald wurde klar, dass man sich auch um die Eltern kümmern muss, wenn man möchte, dass sich für die Kinder etwas verändert. Man begann also damit, Vermittler einzusetzen, die den Eltern erst einmal das Schulsystem erklärten, damit diese überhaupt wissen, wie das Schulleben ihrer Kinder aussieht bzw. aussehen sollte. Außerdem wurde versucht, die Eltern in die Schulbeiräte zu bringen, doch selbst, wenn sie drin waren, sind sie im allgemeinen nicht zu den Treffen gegangen.

Für dieses Projekt wurden 377 Familien ausgewählt, die zu den Ärmsten der Armen gehören, wie Klara Misel Ilieva sagte und bei ihnen die Eltern umfangreich informiert. Dafür hat man Leute kommen lassen, die ihnen alles auf Roma erklären. Klara Misel Ilievas Fazit ist, dass man froh sein kann, wenn sich bei zehn Familien etwas ändert. Doch sie meint auch, dass man bei den Eltern, die wirklich aufgepasst haben, auch Erfolge sieht. Kinder, die regelmäßig zur Schule gehen, schaffen dann manchmal auch die Oberstufe. Aber ein weiteres Problem ist, dass die Mädchen sehr früh verheiratet werden (in der Regel, sobald sie das erste Mal ihre Periode bekommen haben) und sobald sie verheiratet sind, gehen sie nicht mehr zur Schule. Es kommt auch vor, dass die Mädchen verkauft werden (als typische Verkaufssumme werden 3000 Euro genannt). In den Familien ist es häufig üblich, dass nur eine ganz basale Schulbildung wichtig ist, danach geht es darum, Sozialhilfe zu bekommen. Häufig müssen die Kinder auch Plastik sammeln, oder Eisen. Inzwischen ist das Betteln der Kinder verboten, was tatsächlich dazu führt, dass nicht mehr so viele von ihnen auf der Straße sind. Denn die Strafen sind hart und es kann passieren, dass die Kinder den Eltern weggenommen werden, wenn man sie beim Betteln erwischt. Diese Regelung bezieht sich allerdings auf Schulkinder und so kommt es immer noch vor, dass Babys regelrecht gemietet werden, um mit ihnen auf der Straße zu betteln.

Teilweise wurde es als Job verstanden, ins westeuropäische Ausland zu gehen, um dort Asyl zu beantragen. Ziel war dann nicht, wirklich dort zu leben, weil man sich darüber bewusst war, dass der Antrag auf Asyl abgelehnt wird. Aber da es so etwas wie Rückwanderungsprämien gab, also Geld gezahlt wurde, wenn die Familien freiwillig wieder in das Land zurückkehrten, aus dem sie gekommen waren, sahen einige Roma das immer wieder als gute Möglichkeit, um Geld zu verdienen. Häufig wurde dann auch die Auswanderung in ein weiteres Land begonnen, so dass es einen Wechsel von Mazedonien in Länder wie beispielsweise Frankreich, Deutschland oder die Niederlande gab, nur, um von dort mit der Rückwanderungsprämie wieder zurückzukehren.

Die Siedlung von Shuto ist so groß, dass man sie für das tägliche Leben nicht verlassen muss – alle notwendigen Läden, Einrichtungen oder Dienstleistungen finden sich dort, so dass die Menschen im großen und ganzen dort und unter sich bleiben. Diese (Selbst-)Beschränkung führt dazu, dass auch die Mazedonier der übrigen Stadtbezirke überhaupt kein realistisches Bild von den Roma haben, das durch konkrete Begegnungen entstehen würde. Dementsprechend sind es stereotype Vorstellungen, die verbreitet sind, was Klara Misel Ilieva zufolge auch dazu führe, dass die Probleme in Shuto marginalisiert werden. Sie berichtete außerdem, dass es in Gegenden, in denen mehr Mazedonier der albanischen Minderheit leben (wie beispielsweise in Tetovo), für Roma einfacher ist. Gleichzeitig betonte sie aber auch, dass dort, wo insgesamt eine starke Durchmischung der Ethnien herrscht und Serben, Bosnier, Roma, Albaner und Mazedonier wohnen, das Zusammenleben sehr gut funktioniert. Die größten Probleme sind wohl soziale Probleme. Wir erfuhren, dass die Sozialhilfe nach drei Jahren jährlich um 20 Prozent gekürzt wird. Außerdem ist es sehr schwierig, sich durch die bürokratischen Anforderungen zu kämpfen, wenn man weder richtig lesen noch ordentlich schreiben kann. 11 Länder haben ein ‚Roma-Abkommen‘ unterzeichnet, demzufolge man sich besonders um die Unterbringung, Gesundheit, Bildung und die Verbesserung der Infrastruktur kümmern will. Klara Misel Ilieva erzählte, dass man in Mazedonien im Bereich der Bildung am besten abschneidet, doch in ihren Augen liegt das nur am Vergleich der Zahlen – zu den Besten werden sie also nur in Relation zu Ländern, in denen es noch schlechter aussieht, zufrieden könne man mit dieser Situation nicht sein – so Klara Misel Ilieva.

Für die medizinische Versorgung ist zwar grundsätzlich gesorgt, aber dennoch ist es nicht so, dass der Zugang für die Roma leicht wäre. Es gibt eine Poliklinik in Shuto und es gilt das Hausarztmodell, nach dem alle erst einmal zu ihrem Hausarzt müssen, damit dieser sie je nach Fall an Spezialisten weiter überweist. Für die Roma ist das schwierig, weil der Besuch beim Hausarzt zwar gratis ist, alle weiteren Untersuchungen aber Geld kosten. Im Übrigen sind dafür häufig Busfahrten nötig, die auch nicht alle bezahlen können. Für schwerwiegendere Erkrankungen kann man einmal im Jahr eine staatliche Unterstützung beantragen, doch diese ist nicht sehr hoch. Viele der Menschen sind nicht einmal gegen Krankheiten wie Tetanus oder Diphterie geimpft. Angesichts der Tatsache, dass es auch Familien gibt, die genaugenommen zwischen den Müllbergen leben, ist ihr Risiko, ernsthaft krank zu werden, besonders hoch.

Nach dem Gespräch machte Kristian eine Führung über das Gelände und eine kurze Tour durch die Nachbarschaft. Was sofort auffällt sind die Spielgeräte und die bunte Bemalung an den Häusern – das Ergebnis eines Projektes der Freien Waldorfschule Fildern, deren SchülerInnen im Sommer den Spielplatz angelegt und mit den Kindern alles neu gestaltet hatten. Wir besichtigten außerdem noch eine Art Baracke, in der die zu verteilende Kleidung gesammelt wird und bemalte Glasgefäße aufbewahrt werden. Diese sind Teil eines weiteren Projekts, mit dem versucht wird, den Romafrauen Möglichkeiten der Unabhängigkeit aufzuzeigen: Sie lernen, Glas zu bemalen oder Schmuck herzustellen und bekommen dafür auch das Material gestellt. Wenn sie die produzierten Stücke verkaufen, sollen sie sich von dem Geld neue Materialien kaufen. Wichtig ist dabei, den Umgang mit Geld zu üben, der an einer langfristigen Perspektive orientiert ist – es ist eben notwendig, das Geld in neues Material zu investieren, um wirklich dauerhaft Einnahmen haben zu können, immer wieder wird das einmal verdiente Geld aber anders ausgegeben, was dazu führt, dass ein Fortsetzen der Produktion nicht mehr möglich ist.

Zwei Jungen spielen mit einem Plastikband. Bild: Jana Hartmann

So wie während unseres Gesprächs im Nachbarraum Kinder an ihren Schulaufgaben gesessen hatten, sehen wir auch hier draußen Kinder, vor allem im Grundschulalter. Sie wirken alle sehr fröhlich und offen, sprechen uns immer wieder an, teilweise sogar mit deutschen Worten. Deutlich wird aber auch, dass sie offensichtlich in bescheidenen Verhältnissen leben. Die beiden Jungen, die zu Beginn unseres Rundgangs mit einem Plastikband spielten, sahen wir später Flaschen sammeln. Die Menschen, an deren Häusern wir vorbeigingen, reagierten freundlich und von dem Risiko, beispielsweise beraubt zu werden, war eigentlich nichts zu spüren. Da wir eindeutig als Gruppe von Ausländern zu identifizieren sind, erregen wir immer Aufmerksamkeit, stießen aber nicht auf Ablehnung. Als wir zum Bus zurückkehrten, winkten uns Mädchen immer wieder von ihren Spielgeräten aus zu. Der direkte Austausch mit den Kindern war also sehr gering, aber offensichtlich war, dass man sich wechselseitig freut, sich zu sehen.

 

 

 

 

Eine Antwort auf „Besuch der multiethnischen Nicht-Regierungsorganisation Centre for Social Initiatives NADEZ“

  1. Es sind ja nicht nur die Roma-Eltern, die ihre Kinder am liebsten in ethnisch segregierten Schulen sehen würden. Genau diese Forderung machten auch die mazedonischen Albaner.

    Dass es keine Schulen gibt, in denen Romani Unterrichtssprache ist wird oft mit der fehlenden Standardisierung des Romani begründet. Dieses Argument verwundert mich zusehens, denn:
    1. Ist Romani ja Amtsprache in Shuto. Also müssten hier dann ja auch Dokumente auf Romani vorliegen, bzw. müsste zumindest ein administrativer Stil der Sprache bestehen.
    2. kann man in Bulgarien seit mehreren Jahren Romani als Fremdsprache lernen mit bis zu vier Unterrichtsstunden.
    3. kann in Finnland Romani als Unterrichtssprache gewählt werden – http://www.oph.fi/english/education/language_and_cultural_minorities/education_for_the_roma

    Entgeht mir hier ein weiteres Argument, dass gegen Romani als Unterrichtssprache spricht? (Mal ganz davon abgesehen, dass ich eigentlich den segregierten Schulen kritisch gegenüberstehe, und eher ein interkulturelles Modell mit bi- oder trilingualen Unterricht für Mazedonien favorisieren würde)

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